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An diesem einen Punkt der Welt - Roman

An diesem einen Punkt der Welt - Roman

Titel: An diesem einen Punkt der Welt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brita Steinwendtner
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Krebs und nicht mehr lange zu leben habe, aber sie würden ihn begleiten. Was heißt das, fragte Tom wütend, was soll das heißen, begleiten ? Morphium, sagte Virgil. Aber wenn man ihn trösten wollte, wenn Tom ihm sagte, das wird nicht sein, du bist widerstandsfähig, sie können doch nicht über deine Zukunft verfügen, du wirst sehen, du bist so stark, dass du es bekämpfen kannst, was in dir wuchert – dann wurde Virgil ungehalten und sagte, aber sie wissen es, sie wissen es genau und es ist schon weit verzweigt und das Wort Krebs war immer noch das Gespenst, der Horror alles Gesagten. Virgil wollte kein Mitleid, aber tief drinnen war er wund vor Angst. Darum wollte er drastisch über den Tod reden und die Schritte zu ihm hin. Aber auch das ging vorüber. Sein Augenlicht ließ nach, er konnte keine Bücher über die Wälder und Bäume der Erde mehr lesen, nicht einmal die Abbildungen konnte er erkennen. Die Welt wurde ihm genommen. Trompete spielen durfte er hier nicht, es hätte die Mitbewohner gestört. So vermachte er das Instrument Dominik, den er in sein Herz geschlossen hatte. Der Bub soll sich in die Zukunft blasen, sagte Virgil und zwinkerte mit seinen fast blinden Augen. Oft lag er jetzt auf dem Diwan des Zimmers, mit den Schläuchen des Sauerstoffgerätes in der Nase, dann ging es ihm etwas besser. Er tastete sich zum Bad und zur Tür des Balkons, frische Luft brauchte er immer. Sein Gang war noch aufrecht, seine Stimme schwach. Von Tag zu Tag wurde sein Gesicht schöner. Die wasserhellen Augen blickten ins Leere, aber sie sahen mehr als die Menschen, die ihn besuchten. Alles an ihm war Würde.
    Virgil starb an einem Donnerstag, als man das Dorf, den Klostereingang und die Kirche mit den Wipfeln junger Birkenbäume schmückte. Fronleichnamstag.

23
    Das Verandabett ist ihr Reich, immer noch und wieder.
    Das Geheimnis ihrer Hände und Zungen, denen sie vertrauen.
    Ist ihre Erinnerung.
    Sie gehen die Traumpfade der Hoffnung.
    Nachtwind und Eule und Flüsterspiel.
    Sie hören den hurtigen Sommerbach und hören den singenden Ton, wenn winters die Spannung der Eisdecke reißt. Sie legen alte Platten auf und hören jenen anderen singenden Ton in Verdis Macbeth , den einen Ton der Lady, diesen unvergleichlichen, ewig zu dauern scheinenden Klageton. Und Tom liest Elisa die böse Rede des Herzogs Vincentino vor, der dem zum Tode verurteilten jungen Claudio sagt: Begegne dem Leben mit folgenden Argumenten: Wenn ich dich verliere, dann verliere ich etwas, das nur Schwachköpfe behalten wollen. Du bist nichts als ein Hampelmann des Todes. Rackerst dich ab, ihm zu entfliehen, und rennst ihm doch entgegen.
    Elisa, halt mich, schütz mich, hör nicht hin. Komm.
    Theater, alles Theater. Das Sein und der Schein und Shakespeare und nie weiß man, welches Maß für Maß gilt, sagte Tom.
    Nahe vor ihnen, von einem Ast des Nussbaums, hing die Puppe, die sie im Herbst hier aufgebunden hatten. Hing da, lebensgroß wie ein Mensch. Mit Heu ausgestopft, mit Plastikhaaren auf dem Kopf und Turnschuhen an den Füßen. War gedacht als Spass und wurde zum Harlekin der Heimsuchung, zerpeckt und zerschunden, wie sie jetzt war von Wind und Wetter und Vögeln. Bevor Tom sie hier festgebunden hatte, war die Straße ihr Revier gewesen. Wie ein Erhängter baumelte sie von einem Mostbirnbaum – der zweideutige Scherz einer übermütig-surrealen Lamandernacht der Freunde. Fast hätte er einen erschrockenen Pendler das Leben gekostet. Crash am Baum, von dem sie hing.
    Tom schlug die Bettdecke zurück, stand auf, beugte sich über die Holzbrüstung der Veranda, griff sich ein Bein der Puppe, riss sie vom Ast und trug sie hinunter, hinter das Haus, in den Müll.
    Ich will sie jetzt nicht mehr sehen, sagte er.
    Es war jetzt ein anderes Jetzt .
    Es war ohne den rätselhaften Zauber, der es zur Zeitlosigkeit macht.
    *
    How high u think u can get?
    Wie hoch, glaubst du, kannst du gelangen? Das hatte jemand an das Transformatorenhaus vor dem Klostereingang gesprüht. Diese Frage gefiel Tom, so unmittelbar vor dem Tor zum Himmlischen. Wie hoch, dachte er, würde er selbst kommen? Wenn er wollte? Wenn er versuchte, es zu wollen? Wohin wollte er? Raus aus dem Dorf, dem Haus, dem Graben? Waren sie sein Gefängnis oder seine Geborgenheit? Äußerer Ring von Bäumen um seine Augen, innerer von Verstärkern, Gitarren und Büchern um seinen Atem, Bücher als Metastasen, so Matthias, sie wohnten überall, auf Tischen, Stühlen, am Boden, im Bett, im Auto,

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