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An diesem einen Punkt der Welt - Roman

An diesem einen Punkt der Welt - Roman

Titel: An diesem einen Punkt der Welt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brita Steinwendtner
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Volkshochschule in Wien Arabisch zu lernen. Die Gewerkschaftler für die Englisch-Kurse ließ Tom in das Lamanderhaus kommen, wo sie oft bis nach Mitternacht blieben. So war er abends weniger allein.
    Und kämpfte. Mühsam, phasenweise entmutigt und ermüdet. Die Methoden der Gegner waren diffiziler geworden und besser getarnt, was bessere Widerstands-Strategien erfordert hätte. KaO Richter zum Beispiel gab sich jovial, leutselig-tolerant und hatte sogar vereinzelt berechtigte kritische Anmerkungen oder Vorschläge, über die man hätte diskutieren sollen. Er organisierte Open-Air-Konzerte mit einschlägigen Botschaften für die Jugend, die großen Zulauf hatten. Die T-Shirts mit der Ziffer 88 auf dem Rücken hatten er selbst und seine Anhänger allerdings abgelegt, sie waren, auch über Internet, als Zeichen der Hitler-Nachfolge entlarvt worden: H als der achte Buchstabe des Alphabets, das doppelte H bedurfte keiner weiteren Erklärung. KaO Richters Lieblingswort wurde affin , er war kulturaffin, informationsaffin, klimawandelaffin, kinderaffin, fußballaffin … Unter der Hand bespitzelte er, schloss er aus, hetzte unter dem Deckmantel des Heimatschutzes gegen Immigranten und Asylanten.
    Vorübergehend arbeitete Tom im Holzwerk von Leonhard, mit dem er befreundet war und der ein abenteuerliches Gemisch von Filmemacher, Lokalredakteur und Händler mit seltenen Hölzern lebte. Tom verlegte Böden, vertäfelte Stuben und half beim Bau von Tischen aus Bahnschwellen tropischer Länder. Im Sommer half er Mikram, der im Nebenberuf an einem nahen Badesee einen Kiosk betrieb. Im Herbst bewarb er sich in jenem Heim im Mühlviertel, in dem der autistische Johannes untergebracht war, als Pfleger. Es war jedoch keine Stelle frei. Er würde gern diesem Philosophen-Kind wieder zuhören, wenn es die Welt erklärte, vielleicht fände Johannes eine Lösung, auch Lösung ist eine Lösung.
    In Salzburg – nur weg aus dem Dorf – bewarb er sich als Bibliothekar. Er wurde abgelehnt. Niemand war da, um diese Enttäuschung zu mildern, die tief ging, wie damals die Ablehnung für den Dorfbuchladen. Tom sah, wie allein er war. Sie war weg. Matthias war für GEO immer wieder auf Recherchen im Ausland. Mikram war nach seiner Scheidung mit einer neuen Freundin beschäftigt. Parmenides verweigerte sich. Solange du nicht mit Elisa ins Reine kommst, brauchst du nicht mehr bei uns klingeln.
    Tom litt unter dieser Zurückweisung. Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie sehr er Parmenides und Roberta brauchte, wie sehr sie in den vielen Jahren ihrer Freundschaft zu seinen Vertrauten geworden waren, selbstverständlich, unsentimental und durchaus kritisch. Aber wieso hatte er unrecht? Wie kam Parmenides dazu, ihn vor die Tür zu setzen und ihr zur Seite zu stehen? Wer hatte hier wen betrogen? Betrug hat viele Väter, sagte Parmenides, denk einmal nach. Rede mit ihr.
    Nein, das konnte Tom nicht. Reden mit ihr .
    Tom fing zu spielen an. Man sah ihn jeden Donnerstag Abend im Bahnhofsstüberl von Paulkirchen. Im Lokal der Profis war es rauchig wie immer. Die Karten knallten auf den Tisch. Geredet wurde nichts. Der Kehrichtbub von damals, der den erleuchteten Zügen hinterhergeträumt hatte, war nicht mehr da. Tom wagte nicht, den Wirt, der noch verschlossener geworden war, nach seinem Sohn zu fragen. Tom pokerte um Geld. Er war ungeübt und spielte unkonzentriert. Er verlor immer. Nach einigen Wochen ließ er es wieder sein.
    *
    Die Erinnerungen kamen ungefragt und quälend. Sie gingen die Linien nach, die in seinem Körper und Kopf eingeprägt waren, in einem verworrenen Geflecht, anarchisch in der Reihenfolge, in Orten und Begegnungen, Worten und Berührungen, sie waren da, schienen lebendiger als früher und waren dennoch seltsam leblos wie die Bewegung weißer Algen in großer Tiefe.
    Über Nacht war der Boden, auf dem er ging, brüchig geworden, dünner, nein, nicht wie aus Glas, aus Glas baut man heute Hochhäuser und Fabriken, es war ein Boden aus Beton, der unter seinem Schritt zerbröselte, oder aus Trompetenstößen, die es in der Luft zerriss. Eine Liebe, die alles war – war sie alles? – ist nicht mehr, es kam von weit her oder von ganz nah, ganz innen.
    Während er mit Matthias auf seinem Handy – das Wort hat er immer als treffend verteidigt – telefonierte, stoben gelbe Birkenblätter im Föhnsturm quer durch den Garten, dicht, leuchtend und bis vor seine Füße. Eine Krähe hatte sich einen kleinen Vogel geholt, massakrierte ihn im

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