Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
An einem Tag im Winter

An einem Tag im Winter

Titel: An einem Tag im Winter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
Vom Netzwerk:
Gerüst seines Hauses hinaufblickte. Sie stellte sich vor, wie er mit der Hand über einen Holzbalken strich, um zu prüfen, ob er als Träger geeignet war.
    Sie bekam einen Brief von Ellen. Sie öffnete ihn erst im Café.
    Es war ein typischer Ellen-Brief, wenn man so sagen konnte, sachlich und klar, mit lieben Grüßen und allen guten Wünschen versehen, was alles in allem nett war von ihr. Nachdem India den Brief gelesen hatte, faltete sie ihn zusammen und schob ihn wieder in ihre Handtasche.
    Vor gut zwei Jahren hatte sie in ihrem gestohlenen Kleid in einem Nachtlokal in Mayfair gesessen und mit Marcus geredet. Sie hatte ihn gefragt, warum Ellen ihn nicht mochte, und er erzählte ihr von dem Streit mit seinem Freund, vom plötzlichen Tod dieses Freundes und den nachfolgenden Ermittlungen der Polizei.
    Jetzt hatte dieser Freund einen Namen, Bryan Redmond. Marcus, fand sie nach der Lektüre von Ellens Brief, hatte ihr eine Menge unterschlagen.
    Es war schwer, klug daraus zu werden. Marcus hatte eine Art, die Vergangenheit nach seinen Wünschen zu formen. Angenommen, nach dem Tod seiner ersten Frau hatte er das Kind nicht gewollt. Angenommen, er hatte Rosannes Kind mit dem gleichen kalten, kritisch prüfenden Blick angesehen, mit dem er Abigail musterte. Angenommen, er hatte nur Rosanne gewollt, mit dem ganzen egoistischen Verlangen, dessen er fähig war. Dann hatte er vielleicht sogar dem Kind die Schuld an ihrem Tod gegeben.
    Was hätte er getan? Vielleicht hatte er das Kind in ein Waisenhaus gesteckt und jedem, der ihn danach fragte, erklärt, es sei eine Totgeburt gewesen. Dann war er nach England zurückgekehrt, hatte die Existenz des Kindes verschwiegen und neu angefangen. Marcus war ein Meister darin, sich neu zu erfinden und die Türen zur Vergangenheit zu schließen.

12
    ANGESTRENGTE ARBEIT, UM EINE VERSUCHSREIHE abzuschließen, deren Ergebnisse sie bei einer Konferenz im folgenden Frühjahr vorstellen wollte, und danach eine Woche Campingurlaub mit Freya Hawks in Wales hinderten Ellen daran, das Versprechen einzulösen, das sie India gegeben hatte, und Erkundigungen über die erste Mrs. Pharoah und ihr Kind einzuziehen. Als sie Ende August nach London zurückkehrte, hatte sie nur noch zwei Tage Urlaub.
    Fang bei Freunden und Famile an, hatte Riley vorgeschlagen, als sie miteinander gesprochen hatten. Marcus Pharoah hatte eine Tochter, Rowena, einen Bruder, Devlin, einen Neffen, Rufus, und eine geschiedene Frau, Alison. Devlin Pharoas boshaft spöttische Art in lebhafter Erinnerung, beschloss sie, ihr Glück lieber bei Alison Pharoah zu versuchen, die sich zu einem Gespräch mit ihr bereit erklärte. Als Ellen den Telefonhörer auflegte, fiel ihr ein, dass Jan Kaminski, Pharoahs frühere rechte Hand, jetzt in Cambridge war. Sie schrieb ihm, erklärte, sie habe in der Gegend zu tun, und bat um ein Treffen. Kaminski antwortete umgehend mit einer Einladung zum Mittagessen.
    Sie lieh sich Rileys Auto für die Fahrt nach Cambridgeshire. Während sie im morgendlichen Stoßverkehr feststeckte, wanderte ihr Blick ab und zu über die kleinen persönlichen Dinge im Wagen: das Notizbuch, eine Rolle Pfefferminzdrops und ein Bilderbuch im Handschuhfach, sein Schal auf dem Rücksitz. Dann erreichte sie endlich die A1 und hatte freie Fahrt nach Norden. Hinter Royston bog sie ab und fuhr auf kleineren, von Hecken gesäumten Landstraßen weiter. Bald wurde die Gegend vertraut. Ein Kirchturm, ein Dorfanger und ein Kramladen erinnerten sie an Fahrradtouren, die sie damals, als sie noch in Gildersleve Hall arbeitete, an den Wochenenden unternommen hatte.
    Als sie in dem kleinen Dorf Barton auf der Straße neben der Eibenhecke anhielt, wurde sie von Erinnerungen überwältigt. Sie dachte an den Abend, an dem der Strom ausgefallen war, wie die samtene Dunkelheit sie zu ersticken schien, während sie blind den Korridor entlangtappte; an den Schrecken und die Erleichterung bei der unvermuteten Begegnung mit Alec. Sie erinnerte sich, wie der Wind die Fahnen des Pampasgrases im Garten der Pharoahs gepeitscht hatte, und sie erinnerte sich an das Chaos ihrer Gefühle an jenem Tag. All das schien ihr jetzt in weiter Ferne zu liegen, gehörte zu einer jüngeren, einer anderen Person.
    Sie stieg aus dem Wagen und ging die Auffahrt hinauf. Das Haus sah aus, wie sie es in Erinnerung hatte, groß und einladend im Sommersonnenschein. Auf dem

Weitere Kostenlose Bücher