An einem Tag im Winter
daran denke, erscheint mir das alles so licht und hell. Als wäre ich damals â lebendiger gewesen.« Sie räusperte sich verlegen. »Wahrscheinlich war ich einfach jung.«
»Ach, und jetzt bist du alt und senil? Annie !«
Schwach drang eine Kinderstimme durch den Hörer: »Daddy, ich kann nicht schlafen.«
»Ich muss Schluss machen, Liebes, tut mir leid«, sagte Riley kurz. »Ich ruf dich morgen Abend an.«
Dann legte er auf. In der Stille fühlte sich Ellen sonderbar unruhig, beinahe unbefriedigt.
Und konfus. Ich muss Schluss machen, Liebes. Liebes? Das hatte er noch nie zu ihr gesagt. Hatte er Annie gemeint und sie nur versehentlich so angesprochen? Hatte er sich, müde und überarbeitet, wie er war, verhaspelt, wie einem das manchmal passierte?
Mit Indias Brief in der Hand trat sie ans Fenster. Sie blickte auf das Geschriebene hinunter, aber sie las nicht. Ihr Blick schweifte zu den kleinen quadratischen Gärten hinter den Häusern. Einige vergessene Wäschestücke hingen schlaff von den Leinen; Rosen lieÃen in der Dämmerung die Köpfe hängen. Liebes ⦠Sie rollte den Rand des dünnen blauen Papiers zwischen Daumen und Zeigefinger, während sie den Gehalt des Wortes prüfte. Wie seltsam, dass ein einziges Wort ein solches Gefühlschaos auslösen konnte. Aber vielleicht steckte etwas ganz anderes dahinter, vielleicht war dieser plötzliche, heftige Impuls, gleichzeitig zu lachen und zu weinen, eine Folge dessen, was sie zu Riley über die Erinnerung gesagt hatte; eine Folge von Indias Brief, der eine Tür zur Vergangenheit geöffnet hatte.
Es gibt immer eine Spur , hatte er gesagt. Man muss sie nur zu finden wissen . Die Vergangenheit hinterlieà Spuren, genau wie die Menschen, die zu ihr gehörten. Wenn sie an diese frühen Jahre in London zurückdachte, erschienen sie ihr so ungeheuer farbig, dass ihr das Verstreichen der Zeit vorkam wie ein Verlust. Denkst du an Alec?, hatte er gefragt. Nein, etwas ganz anderes bewegte sie.
Sie hatte so viel erreicht, sie hatte diese Wohnung, sie hatte Erfolg in ihrem Beruf â Dinge, die ihr einst unerreichbar erschienen waren. Warum dann dieses quälende Gefühl des Bedauerns?
Sie versuchte, den Verlauf ihrer ersten Jahre in London mit analytischem Blick zu betrachten. Der Spaà und die Abwechslung, die India in ihr Leben gebracht hatte, hatten ihr geholfen, den Schock und das Misstrauen nach ihrer Entlassung aus Gildersleve Hall zu überwinden. In ihrer neuen Arbeit hatte sie mit der Zeit Befriedigung gefunden. Sie war Riley wiederbegegnet, damals, auf der Treppe vor dem Krankenhaus, und von dem Tag an hatte sich eine Freundschaft zwischen ihnen entwickelt.
Sie würde tun, worum India sie gebeten hatte, und versuchen herauszufinden, ob Marcus Pharoah noch ein weiteres Kind hatte und was aus ihm geworden war. Sie würde es tun, weil es in ihrer Natur lag. Hatte sich eine Frage einmal aufgetan, dann musste sie ihr nachgehen, bis sie sie beantwortet hatte.
Liebes ⦠Störte es sie, dass er sie so genannt hatte? Nein, überhaupt nicht. Aber auch das warf Fragen auf, denn dieses Wort aus seinem Mund hatte seine eigene Spur hinterlassen, eine Verzückung, als besäÃe es magische Kräfte. Der Gedanke, er könnte es versehentlich gebraucht haben, war kaum zu ertragen, so sehr wünschte sie sich, dass es ihm aus dem Herzen gekommen war.
Sie saà an einem Ecktisch in einem Café in der Tottenham Court Road. Als Riley sie hinter dem Fenster bemerkte, ging er hinein.
»Hallo, Janey.«
Langsam drehte sie sich nach ihm um, und sofort fielen ihm die sich schon gelblich verfärbenden Blutergüsse in ihrer einen Gesichtshälfte auf. Sie war hübsch und sehr jung, klein und zart, mit einem dunkelbraunen Pferdeschwanz und Stirnfransen. An ihrem Akzent erkannte er, dass sie aus Irland stammte; im groÃstädtischen Jargon schwang noch der singende Tonfall der Iren mit.
Es war jetzt zwei Jahre her, dass er Janey Kelly im Blue Duck auf die Beine geholfen hatte.
»Was wollen Sie, Riley?«, fragte sie kurz angebunden.
»Ich wollte nur mal sehen, wie es Ihnen geht. Soll ich Ihnen noch einen Kaffee holen?«
Sie zuckte mit den Schultern, und er ging zum Tresen. Weil sie so erbärmlich dünn war, nahm er auch ein paar süÃe Brötchen mit, dann trug er das Tablett zum Tisch.
»Sie sehen aus, als hätten Sie
Weitere Kostenlose Bücher