An einem Tag im Winter
an ihren Nägeln kauen konnte.
»Sie brauchen mir das nicht zu erzählen. Wir haben alle Dummheiten gemacht, India.«
»Sie auch?«
»Na klar. Wollen Sie es wissen? Mit sechzehn habe ich ein Motorrad zu Schrott gefahren und mir dabei das Bein gebrochen. Im selben Jahr habe ich die Schule geschmissen und bin eine Zeit lang rumgezogen, hab alles Mögliche getrieben, nichts davon besonders erbaulich. SchlieÃlich habe ich Ãrger mit der Polizei gekriegt, weil ich zu viel getrunken hatte. Ich habe ein ganzes Jahr gebraucht, um zu merken, was für ein Idiot ich war. Dann habe ich aufgehört zu trinken, bin nach Hause gefahren, habe mir eine Arbeit in einem Laden gesucht, meinen Schulabschluss nachgeholt und mein Leben in Ordnung gebracht. Wo war denn Ihre Mutter, als das alles passiert ist?«
»Sie ist gestorben, als ich zehn war. Ja, ja, ich weië, fügte sie schnell hinzu, »ich habe gestohlen, um mich über den Verlust meiner Mutter zu trösten. Liegt doch auf der Hand, oder?«
Sie hatten den Ort hinter sich gelassen und folgten der StraÃe nach Norden. »Wohin gehen wir eigentlich?«, fragte sie ihn.
»Zu mir.« Er lachte. »Ich verspreche Ihnen, dass mein Kaffee besser ist als der im Café.«
Die Felder zu beiden Seiten der StraÃe waren zu kurzen braunen Stoppeln abgemäht, sonnenglänzende Staubschleier lagen über den Grasrainen. Während sie nebeneinander hergingen, er mit dem Kinderwagen vor sich, erzählte India von dem Haus im Wald, von Sebastian, Neil und Mrs. Day und vom Tod ihrer Mutter. Es war das erste Mal, fiel ihr ein, dass sie jemandem die ganze Geschichte erzählte. Vielleicht machte das fremde Land es ihr leichter, darüber zu sprechen. Oder vielleicht lag es an Linc.
Vor seinem Blockhaus angekommen, schob er den Kinderwagen den Hang hinauf, dann ging er hinein, um Kaffee zu kochen. India hockte derweilen auf der kleinen Vortreppe und hielt nach Kolibris Ausschau. Er kam mit zwei Emailbechern heraus und setzte sich neben sie.
»Ich finde«, sagte er, »Sie haben sich ziemlich tapfer geschlagen. Sie haben Ihren kleinen Bruder versorgt und Ihr Bestes getan, um ihn zu beschützen.«
Vor langer Zeit hatte Rachel etwas Ãhnliches zu ihr gesagt. Sie dachte daran, wie sehr Rachel ihr fehlte und wie gut sie gerade jetzt ihren sachlichen und liebevollen Rat hätte gebrauchen können.
»Marcus behauptet, ich hätte schlechtes Blut«, sagte sie.
»Sehr hilfreich von Marcus. Er wird mir langsam unsympathisch.«
Sie schlang die Arme um ihre Knie und beugte sich vor, um zur StraÃe hinunterzusehen. »Ich glaube nicht, dass mein Blut anders ist als das von anderen Menschen. Aber ich habe schon manchmal Angst, dass ich Abigail keine gute Mutter sein kann.«
»India, Sie sind eine groÃartige Mutter. Sie lieben Abigail, Sie sorgen für sie, und Sie spielen mit ihr. Mehr braucht ein Baby nicht. Sie können stolz auf sich sein.«
»Aber man lernt von den eigenen Eltern. Als Kind ist man überzeugt, das Leben der eigenen Familie sei völlig normal, so wie es ist, auch wenn alle anderen noch sosehr den Kopf schütteln. Und diese Ãberzeugung sitzt tief, glaube ich, sie ist ein Teil von uns. Was passiert, wenn ich da wieder hineinrutsche? Wenn ich träge werde oder achtlos und ihr stöÃt etwas zu? Ich glaube nicht, dass unsere Mutter uns absichtlich vernachlässigt hat. Ich nehme an, sie hat ihr Bestes getan.«
Er nahm ihre Hand in seine, die warm war vom Kaffeebecher, und sie drückte sie. »Menschen können sich verändern«, sagte er. »Leben können sich verändern. Wenn zwei Menschen sich finden, helfen sie einander.«
»Ich habe Angst, Linc«, sagte sie leise.
»Die schönsten Dinge passieren oft durch Zufall. Wie bei mir: Da sitze ich eines Nachmittags gelangweilt an der Arbeit, schaue zum Fenster hinaus und sehe, wie Sie sich abmühen, diesen Kinderwagen durch die Tür vom Café zu bugsieren.«
Dann küsste er sie. Sein Körper schmiegte sich warm an ihren. Als sie schlieÃlich die Augen öffnete, sah sie im Schatten der Birkenzweige etwas in der Luft schwirren, einen Glanz schillernder Farben.
Am Abend, nach dem Essen, sprach sie mit ihm. Er war in seinem Arbeitszimmer, die Tür halb offen.
»Ich möchte, dass du mich freigibst, Marcus«, sagte sie.
Sie sah, wie er innehielt, bevor er sich in seinem Sessel
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