An einem Tag im Winter
sie sein.«
» Schämen ?«, wiederholte er. »Was redest du da?«
»Du hast drei Kinder, Marcus. Eins, das du verwöhnst, eins, das du ignorierst, und eins, von dem du niemals redest.«
Sie sah ein Flackern in seinen Augen. »Ich habe dir gesagt, das Kind war eine Totgeburt«, versetzte er. Dann drehte er sich um und ging hinaus.
Indias Kopf hämmerte, und sie merkte, dass sie zitterte. Der Feuersturm, der an diesem Abend durch sie hindurchgerast war, schien sie völlig ausgebrannt zu haben. Sie trat auf die Veranda hinaus. Als sie langsam die Stufen hinunterging und dem mondbeschienenen Weg folgte, der zum See führte, fühlte sie sich wie in einem Traum, leer und beinahe jenseits aller Gedanken und so schwerelos, dass sie wie Distelwolle durch die Luft hätte schweben können. Am Seeufer blieb sie stehen und lieà sich von der kühlen Nachtluft umwehen. Sternenlicht blitzte auf der stillen Wasseroberfläche, und irgendwo schrie ein Vogel.
Kurz bevor Marcus gegangen war, hatte sie in seinem Blick etwas Erstaunliches gesehen, etwas, das sie nie zuvor an ihm gesehen hatte.
Furcht.
Zwei Tage nach dem Fest fuhr India nach Midhurst. Sie stellte den Wagen auf einem leeren Parkplatz ab, hob den Tragekorb mit Abigail und das Kinderwagengestell aus dem Kombi und erledigte, nachdem sie den Wagen zusammengebaut hatte, ein paar Einkäufe. Danach ging sie ins Café.
Die Kellnerinnen begrüÃten sie wie eine alte Freundin und erboten sich sofort, Abigails Fläschchen warm zu machen. Abigail hatte fast ausgetrunken, und India tupfte ihr gerade einige Milchtröpfchen vom Kinn, als sie zum Fenster hinausblickte und ihn über die StraÃe kommen sah.
»Hallo, Linc«, sagte sie, als er eintrat.
Er lächelte sie an. »Ich dachte schon, Sie wären nach England zurückgegangen. War ganz schön traurig, meinen Kaffee ohne Sie zu trinken.«
Sie nahm Abigail auf den Schoà und lachte. »Sie haben sicher andere Gesellschaft gefunden.«
»Aber es war nicht das Gleiche.«
Sie hätte den kleinen Flirt fortsetzen können, wie sie das an so vielen anderen Tagen getan hatte, doch stattdessen sagte sie mit Nachdruck: »Ich bin verheiratet, Linc.«
Er setzte sich ihr gegenüber. »Aber nicht glücklich.«
»Woher wollen Sie das wissen?«
»Glücklich verheiratete Frauen reden von ihren Männern, Sie tun das nie. Glücklich verheiratete Frauen sagen: âºWissen Sie, was John mir gestern Abend erzählt hatâ¹, oder: âºJohn war mit mir in einem tollen Restaurant.â¹Â«
Er sprach leicht affektiert, und sie wusste, dass er sie zum Lachen bringen wollte, aber sie presste die Lippen zusammen und starrte zum Fenster hinaus.
»Hey«, sagte er beschwichtigend. »Tut mir leid. Ich wollte Sie nicht traurig machen.«
»Ich bin nicht traurig.«
Er stand auf. »Kommen Sie, machen wir einen Spaziergang. Ich schiebe den kleinen Frosch, und Sie sagen mir, wenn ich mein loses Mundwerk halten soll.«
Sie gingen die HauptstraÃe hinunter, an den Geschäften und den Tankstellen vorbei. Abigail lag im graublauen Schatten des Sonnenverdecks und versuchte, mit ihren kleinen Fingern die Fransen daran zu fangen.
Nach einer Weile sagte er: »Sie haben mir gefehlt.«
»Linc ⦠Ich finde, das sollten Sie wissen: Es gibt keinen Grund, mich zu mögen.«
»Ich tuâs aber.«
»Nicht nur wegen Marcus. Ich bin keine nette Frau.«
Er sah sie forschend an. »Moment mal â Sie haben Ihren Liebhaber erschossen und in den Fluss geworfen?«
Sie lächelte flüchtig. »Nein. Aber ich habe gestohlen.«
»Aha.«
»Das erste Mal, als ich zehn Jahre alt war, und das letzte Mal â ach, das ist gut zwei Jahre her.«
Er pfiff durch die Zähne. »Eine richtige kriminelle Vergangenheit. Wovon reden wir? Goldbarren, Diamanten, Banknoten?«
»Am Anfang war es nur etwas zu essen, weil wir Hunger hatten, Sebastian und ich.« Sie kaute auf einem Fingernagel. »In der Schule habe ich den anderen Mädchen Sachen weggenommen. Nur Kleinigkeiten. Nie etwas Wertvolles.«
»Andenken.«
»Ja. Dann haben sie mich rausgeworfen, und ich musste auf eine andere Schule.«
»Das war sicher schlimm.«
»Nein, eigentlich nicht. Ich war eher froh, es war fürchterlich dort. Und dann â«
Er legte seine Hand um die ihre, damit sie nicht weiter
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