An einem Tag im Winter
umdrehte. »Ich soll dich freigeben?«
»Ja.«
»Wenn dir langweilig ist, können wir einen Urlaub machen. Nach Cape Cod fahren.«
»Mir ist nicht langweilig. Nur einsam fühle ich mich manchmal.«
»Du hast doch das Kind.«
»Ich beklage mich nicht. Aber ich kann nicht bei dir bleiben.«
» Nein .« Leise und scharf.
»Wir machen uns doch gegenseitig nicht glücklich.«
»Glücklich?«, fragte er, Bitterkeit und Trauer in der Stimme. »Du möchtest glücklich sein?«
»Wenigstens manchmal. Es macht mir nichts aus, wenn es nur Momente sind. Aber mit dir bin ich nie glücklich. Und ich glaube, du bist mit mir auch nicht glücklich.«
»Glück! Was für ein bescheidenes Ziel, wenn es so viele andere weit erstrebenswertere Dinge gibt.«
»Kann sein.« Sie krampfte die Hände ineinander. »Aber so sehe ich es nun mal. Du wirst wahrscheinlich sagen, ich laufe wieder einmal davon, aber das glaube ich nicht.«
»Für wen willst du mich denn verlassen? Für diesen Kerl aus dem Café?«
»Es geht nicht um einen anderen Mann, es geht um mich allein. Du willst mich verändern, das merke ich doch. Wenn du mich lieben würdest, richtig lieben, meine ich, dann würdest du das nicht versuchen. Ich habe das Gefühl, du willst mich nach â ach, ich weià nicht â, nach irgendeinem Bild formen, nach einer Vorstellung, die du hast und die ich nicht verstehe und auch gar nicht verstehen will, weil mir der Gedanke verhasst ist.«
»Mach dich nicht lächerlich. Was erwartest du von mir? Dass ich sage: Na schön, pack deine Sachen und machâs gut? Nein, India.«
»Marcus, bitte.«
»Nein.«
»Du kannst mich hier nicht festhalten.«
»Dich vielleicht nicht, aber ich kann das Kind behalten.«
Wollte er sie provozieren? Nein, dachte sie, so sah er nicht aus.
»Aber du liebst Abigail doch gar nicht«, wandte sie ein.
»Ich liebe dich. «
»Das ist keine Liebe. Ich weià nicht, was du unter Liebe verstehst, aber so ist sie nicht. Und im Ãbrigen liebe ich dich nicht, habe dich nie geliebt.«
Er wandte sich ab und sagte kalt: »Wenn du mich verlässt, behalte ich das Kind. Kein Gericht weit und breit würde dir das Sorgerecht zusprechen, das ist dir hoffentlich klar? Die Mutter, die sich nie gekümmert hat â der nervenkranke Bruder, der nicht mal wehrdienstfähig war. Was bei Gericht zählt, sind schriftliche Belege, und die habe ich, denk nur an die Berichte des Waisenhauses. Wenn du mich verlässt, werde ich dafür sorgen, dass man dir das Sorgerecht abspricht, dann siehst du Abigail nie wieder.«
Damit setzte er sich wieder an seinen Schreibtisch, schraubte seinen Füller auf und setzte schwungvoll seine Unterschrift unter einen Brief.
In der Nacht stand India leise auf und schlich auf den Flur hinaus. Sebastians Briefe lieÃen keinen Zweifel daran, dass er sich in seinem neuen Zuhause wohlfühlte, und dafür war sie Marcus dankbar. Sie hatten es geschafft, sie und Sebastian, sie hatten überlebt. In Anbetracht der Umstände war das wirklich keine schlechte Leistung.
Aber sie musste gehen. Im Rückblick sah sie, dass es ihr jedes Mal, wenn sie sich in der Falle gefühlt hatte, gelungen war zu entkommen. Dem Haus im Wald, dem ersten Internat, Bernie â in all diesen Fällen hatte sie es geschafft, sich zu befreien, wie ungeschickt und unter welchen Schwierigkeiten auch immer. An Marcusâ Seite konnte sie nicht frei sein.
Niemals würde sie zulassen, dass er ihr das Kind wegnahm. Seine Drohung hatte sie nur in ihrer Ãberzeugung bestärkt, dass sie ihn verlassen musste. Sie wusste, dass sie ihr Leben ändern musste. Schluss mit dem Herumflattern von einer Arbeitsstelle zur nächsten; sie musste eine Anstellung finden, die es ihr erlaubte, sich gleichzeitig um Abigail zu kümmern, und sie musste dabei bleiben. AuÃerdem musste sie damit aufhören, sich Dinge zu nehmen, die ihr nicht gehörten: Bücher, Kleider, anderer Frauen Ehemänner oder Liebhaber.
India sah zum Flurfenster hinaus. Dünne Wolken zogen über die runde Scheibe des Mondes. Die Ellbogen aufs Fensterbrett gestützt, sah sie die Wipfel der Bäume silbern aufleuchten, wenn die Wolken sich teilten.
Am Morgen nahm Marcus den Kombi, um ins College zu fahren. Sobald er weg war, packte India ihre Sachen. Viola
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