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An einem Tag im Winter

An einem Tag im Winter

Titel: An einem Tag im Winter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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hören und schnappte verzweifelt nach Luft. Dann stieß er an einen Karton und fiel auf die Knie.
    Sein Atem klang laut in dem hohen Raum. Das Licht schien sich plötzlich auszudehnen, den ganzen Tunnel auszufüllen, und er erkannte Lee Carter, nur wenige Meter von ihm entfernt.
    Riley schloss die Augen.
    Von Bourchier aus waren es mehr als hundertfünfzig Kilometer bis nach Medway in Nord-Maine. India ließ sich Zeit, gönnte sich eine Weile Ruhe, bevor sie wieder aufbrach. Je weiter sie nach Norden kam, desto kleiner wurden die Dörfer und desto größer die Entfernungen dazwischen. Sie hielt an jeder Tankstelle auf dem Weg, aus Angst, ihr könnte das Benzin ausgehen. Unter dem stumpfer werdenden blassen Himmel wurden die Straßen schmaler und die Wälder dichter, gelblich schimmerndes Laub kündigte den nahenden Herbst an. Hin und wieder sah sie eine Lichtung, wo Baumstämme wie die Streichhölzer eines Riesenvolks auf dem kahl geschnittenen Waldboden durcheinanderlagen. Auf den Lichtungen waren Männer damit beschäftigt, große Holztransporter zu beladen, und die Stille der Landschaft ging im Kreischen der Motorsägen unter.
    Selten zuvor war sie so allein gewesen. Während ihrer Kindheit hatte sie immer Sebastian gehabt; und selbst wenn sie von ihm getrennt war – in der Schule, im Waisenhaus –, war sie immer unter Menschen gewesen. Dann hatte sie Rachel gehabt und nach Rachels Tod ihre Londoner Freunde, schließlich Marcus. Auch in Vermont war sie niemals ganz allein gewesen, dafür hatte Marcus gesorgt. Jetzt hatte sie außer Abigail niemanden.
    Immer begleitete sie die Furcht, sie könnte sich verfahren. Wenn man hier vom Weg abkam oder eine Autopanne hatte, konnte es passieren, dass man kilometerweit laufen musste, bis man auf eine menschliche Behausung stieß. Die Forstwege und die Wälder zu beiden Seiten dehnten sich ins Unermessliche; als sie am Straßenrand hielt, um Abigail zu füttern, schloss sie ein paar Minuten die Augen und sah trotzdem noch die endlosen Baumreihen vor sich.
    Ein Ast bewegte sich, ein Vogel stieg krächzend in die Luft. Man konnte England der Länge und der Breite nach durchfahren, ohne ein wildes Tier zu Gesicht zu bekommen, das größer war als ein Hirsch, doch in diesen alten Wäldern im Herzen Amerikas lebten Elche und Bären. Ob es auch Wölfe gab? Sie konnte sich nicht erinnern. Während sie die Karte vor sich ausgebreitet hielt, schweifte ihr Blick wie magisch angezogen zu den schmalen, dunklen Tunneln zwischen den Bäumen. Unter ihrer Hand, die auf der Brust ihres Kindes ruhte, fühlte sie Abigails Atemzüge. Nur ein paar Schritte in diese Wälder, dachte sie, und man würde nie wieder herausfinden. Was fiel ihr ein, mit ihrem Kind in den kalten Norden eines fremden Landes zu reisen, nur um eine alte, lang verwehte Spur zu verfolgen?
    Das Dorf Medway lag dort, wo der Ostarm und der Westarm des Penobscot River sich vereinigten. India stieg in einem Motel ab und fragte die Empfangsdame, ob sie wisse, wo Kitty Michaud wohnte. Die Empfangsdame, die in einem Roman blätterte und dabei unaufhörlich Kaugummi kaute, schaute aus dem Fenster. Als sie den Austin-Healey sah, fragte sie: »Ist das Ihrer? Der ist ja niedlich.« Dann beschrieb sie India den Weg zu einer Straße am Fluß. »Vor dem Haus steht ein rostiger alter Ford. Sie können es gar nicht verfehlen.«
    Die Häuser wurden weniger, als India aus dem Ort hinausfuhr, die weiten Grünflächen dazwischen ließen sie klein und unscheinbar erscheinen. Schon nach kurzer Fahrt entdeckte sie den Ford, ein plumpes Vorkriegsfahrzeug. Er stand am Beginn eines Fußwegs. Der Lack spröde von der Witterung und zu einem rostigen Braun verfärbt, war er beinahe zu einem Teil der Landschaft geworden.
    Sie parkte Marcus’ Sportflitzer daneben und musterte das Haus. Die allgegenwärtigen Tannen standen zu beiden Seiten des kleinen, ebenerdigen Holzbaus. Auf der Veranda saß eine Frau.
    India hob Abigail aus dem Wagen und ging den Fußweg hinauf. Die Frau auf der Veranda stand auf, klein und rundlich, in einem selbst gestrickten Pullover und einem Baumwollrock. Das grau durchzogene braune Haar war im Nacken zusammengebunden. Tiefe Linien hatten sich in ihr breites, vom Wetter gegerbtes Gesicht eingegraben, ihre kleinen, dunklen Augen blickten misstrauisch.
    India sagte: »Entschuldigen Sie, dass ich

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