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An einem Tag im Winter

An einem Tag im Winter

Titel: An einem Tag im Winter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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Sie belästige, aber ich suche Miss Michaud.«
    Â»Ich bin Kitty Michaud. Und wer sind Sie?«
    Â»Mein Name ist India Pharoah.«
    Â»Pharoah.« Kitty Michaud griff sich an den Hals.
    India begann zu erklären. Kitty Michaud unterbrach sie. »Sie kennen ihn«, sagte sie scharf. »Marcus Pharoah.«
    India spürte einen Anflug von Erregung. »Er ist mein Mann«, sagte sie.
    Ein misstrauischer Blick zur Straße. »Ist er auch hier?«
    Â»Nein. Ich bin allein.«
    Â»Warum sind Sie hergekommen?«
    Â»Ich wollte mit Ihnen über das Kind sprechen. Das Kind von Rosanne.«
    Kitty Michaud schien in sich zusammenzusinken; unsicher griff sie mit einer Hand nach dem Verandageländer. Doch dann richtete sie sich auf, trat zur Seite und hielt India die Haustür auf.
    Â»Ich dachte schon, alle hätten ihn vergessen«, sagte sie. »Ich dachte schon, niemand außer mir erinnert sich noch an ihn.«
    An den Wänden hingen farbenprächtige Perlenstickereien; über den Rückenlehnen des Sofas und des Schaukelstuhls lagen Patchworkdeckchen. »Die Winter hier sind lang«, erklärte Kitty Michaud, als India sie bewunderte. »Da habe ich gern etwas zu tun.« Sie bedeutete India, sich zu setzen. »Sie sind ihr ein bisschen ähnlich«, sagte sie.
    Â»Rosanne?«
    Â»Der gleiche Typ, blond und hellhäutig. Und sie war auch so zierlich wie Sie. Wie alt ist Ihr Kleines?
    Â»Abigail ist knapp fünf Monate alt.«
    Â»Und sie ist gesund?«
    Â»Kerngesund, ja, danke, Miss Michaud.«
    Kitty Michaud trat zu einer Kommode, öffnete eine Schublade und nahm ein Album heraus. Sie schlug es auf und reichte es India. »Das ist er. Das ist mein Jimmy.«
    India blickte auf das Schwarz-Weiß-Foto eines Säuglings hinunter. »Das ist das Kind von Marcus und Rosanne?«, fragte sie nach einem Moment des Schweigens.
    Â»Ja.«
    Abigail begann zu jammern. India zog sie höher auf ihren Schoß, sodass sie an ihren Bauch gelehnt sitzen und zum Fenster hinausschauen konnte. »Marcus hat mir erzählt, das Kind sei tot zur Welt gekommen«, sagte sie.
    Â»Das war gelogen. Aber Sie haben ihm offensichtlich nicht geglaubt, sonst wären Sie ja nicht hergekommen.«
    Â»Aber Rosanne ist gestorben?«
    Â»Ja.« Kitty Michaud klappte das Album zu und legte es auf die Kommode zurück. »Er hat mir damals die Schuld gegeben«, sagte sie. »Er hat behauptet, ich hätte sie umgebracht. Es war eine Steißgeburt, und sie war ja so zart.«
    Â»Was ist denn genau passiert?«
    Stockend erzählte Kitty Michaud ihre Geschichte. Es war Januar gewesen, und ein heftiger Schneesturm tobte, als Marcus Pharoah die Hebamme geholt hatte. Sie hatten länger als eine Stunde für die kurze Fahrt nach Aspen Creek gebraucht.
    Zu Beginn war Kitty Michaud zuversichtlich, dass alles gut verlaufen würde. Sie hatte schon ein halbes Dutzend Steißgeburten begleitet, und die Kinder waren alle gesund zur Welt gekommen. Als sie merkte, dass es nicht zum Besten stand und Marcus Pharoah bat, den Arzt zu holen, hatte der Schneesturm solche Ausmaße angenommen, dass ein Durchkommen nach Bourchier, wo der Arzt wohnte, nicht mehr möglich war.
    Â»Aber selbst wenn er es geschafft hätte, wäre es zu spät gewesen«, sagte Kitty Michaud traurig. »Ich musste dieses Seelchen aus seiner Mutter herausziehen, sonst wäre es in ihrem Leib gestorben. Das arme Mädchen ist einfach verblutet. Ich konnte nichts für sie tun, überhaupt nichts.«
    Â»Und Marcus?«, fragte India.
    Â»Er hat mich angeschrien, ich hätte lieber die Mutter als das Kind retten sollen. Ich habe versucht, ihm zu erklären, dass ich keine Wahl hatte, dass sie beide gestorben wären, aber er hat mir überhaupt nicht zugehört. Ich wollte ihm das Kind in die Arme legen, weil ich dachte, das wäre ihm ein Trost, aber er wollte nichts von dem Kleinen wissen. Er sagte, er verabscheue dieses Ding. So hat er seinen eigenen Sohn genannt. Ein Ding. Nicht einmal einen Namen wollte er ihm geben. Ich habe ihn Jimmy genannt.« Kitty Michaud hielt einen Moment inne.
    Â»Das war die längste Nacht meines Lebens«, fuhr sie dann fort. »Ich konnte dieses Haus nicht verlassen. Wegen des Schneesturms und wegen des Kindes. Wenn so etwas Entsetzliches passiert, fragt man sich hinterher immerzu, ob man nicht irgendetwas hätte anders machen können. Ich habe

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