Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
An einem Tag im Winter

An einem Tag im Winter

Titel: An einem Tag im Winter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
Vom Netzwerk:
meldete sie sich nicht. Vielleicht war sie ausgegangen.
    Oder vielleicht ging sie einfach nicht hin. Vielleicht wollte sie nicht mit ihm reden. Was musste sie gedacht haben, als Pearl so aus dem Nichts aufgetaucht war? Ihr Erscheinen hatte ihr wahrscheinlich deutlich gemacht, was auf sie zukommen würde, wenn sie ihn heiratete. Nicht nur würde sie das Kind einer anderen Frau mit in ihre Ehe nehmen – auch Pearl würde immer eine Rolle spielen. Er würde Pearl niemals ganz aus seinem Leben verbannen können; Annie wäre immer ein Band zwischen ihnen. Waren Ellen bei dieser Erkenntnis womöglich Zweifel gekommen?
    Die Polizistin traf ein. Als Riley das Krankenhaus verließ, war es Nacht geworden. Für die Fahrt durch die Whitechapel Road und über die Tower Bridge, dann weiter über Walworth und Camberwell nach Brixton brauchte er eine halbe Stunde. Die Dunkelheit wurde dichter, die Straßenlaternen flogen wie zuckende Lichter vorbei. Vom schmutzig orangefarbenen Himmel hob sich schwarz die Stadtsilhouette ab, Reihenhäuser, Gasspeicher und Fabrikgebäude.
    Er parkte am Bahnhof, nahm eine Taschenlampe aus dem Handschuhfach und ein Stemmeisen aus dem Kofferraum mit und ging die Brixton Station Road hinunter. Ein Zug keuchte mit qualmendem Schornstein über die Bogenbrücke. In einige der Bögen waren Holztüren eingesetzt, andere waren offene, finstere Tunnel. Die Türen waren von unterschiedlicher Größe, und als er an ihnen entlangging, bemerkte Riley, dass nur eine schwarz versengt war. Er ließ den Strahl seiner Taschenlampe darübergleiten. Eine Brandbombe, vermutete er; die Lackreste hatten Blasen geworfen, und ein großer Teil der Türoberfläche war verkohlt, genarbt und von Furchen durchzogen wie Krokodilleder.
    Riley nahm das Stemmeisen zur Hand, um das Vorhängeschloss anzugehen. Die Straße war ruhig, nur ein einsamer Radfahrer kam vorbei, der ihn nicht beachtete. Er brauchte nicht lang, um das Schloss zu knacken, trat einmal kräftig gegen das verkohlte Holz, und die Tür sprang auf.
    Im Schein der Lampe konnte er über sich den hohen Backsteinbogen ausmachen, hörte das Rumpeln des Zugs, das zwischen den Mauern widerhallte. Der Lampenstrahl sank tiefer und streifte über Kisten und Aktenschränke. Die Aktenschränke waren alle mit Vorhängeschlössern gesichert, genau wie die Tür. Während er noch dabei war, eines der Schlösser aufzustemmen, hörte er hinter sich ein Geräusch und drehte sich um.
    Â»Davies, sind Sie das?«
    Keine Antwort. Das Schloss sprang ab und schlug klirrend gegen das Metall des Aktenschranks, bevor es zu Boden fiel. Riley zog eine Schublade auf. Drinnen befanden sich ordentlich aufgereiht braune Hängeordner. Er nahm einen heraus. Die Taschenlampe unter den Arm geklemmt, sah er Seiten voller Zahlen rasch durch. Sogar korrupte Buchhalter müssen Bücher führen, dachte er.
    Ein Schritt. Riley knipste die Lampe aus, schob den Ordner unter seine Jacke und trat hinter den Schrank. Als seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte er in der Türöffnung die Umrisse einer massigen Gestalt erkennen.
    Â»Hey, Bulle!« Lee Carters Stimme brach sich dröhnend an der hohen Decke des Brückenbogens. »Hab doch gewusst, dass dieses blöde kleine Luder die Klappe nicht halten kann. Hätt sie gleich fertigmachen sollen.«
    Riley bewegte sich vorsichtig rückwärts, in einer Hand die Lampe, mit der anderen die Möbelstücke abtastend. Er versuchte, sich den Raum ins Gedächtnis zu rufen, wie er ihn vorher im Lichtschein gesehen hatte. Wie weit reichte der Tunnel unter der Eisenbahn nach hinten? Gab es vielleicht einen Ausgang auf der anderen Seite der Brücke? Und wo blieb Davies?
    Â»Jetzt sitzt du in der Falle, Bulle, was?«, rief Carter laut. »Als ich klein war, hab ich Ratten gefangen. Ich wette, mit dir macht das Spiel mehr Spaß.«
    Der Strahl von Lee Carters Lampe blieb an Riley hängen. An der gewölbten Rückwand des Bogens sah der Inspector schwarz und riesig seinen eigenen Schatten. Ein Schuss krachte und hallte an den Mauern wider. Riley rannte zwischen Kisten und Aktenschränken hindurch, um die schützende Dunkelheit hinten im Tunnel zu erreichen.
    Carter feuerte ein zweites Mal. Weißglühender Schmerz durchzuckte Rileys Schulter. Er rannte weiter, aber seine Beine waren bleischwer. Er konnte sich keuchen

Weitere Kostenlose Bücher