An einem Tag im Winter
des Unkonventionellen. Nichts war India zu viel. Ellen wusste bis heute nicht, ob unerschütterliche Treue oder Starrköpfigkeit dahintersteckte. Sie machte einen schlicht mürbe: Man lieà sich von ihr die Briefe zum Postkasten bringen oder die Hausschuhe holen, obwohl es einem eigentlich unangenehm war.
India war fünfzehn, als sie einander das erste Mal begegneten, ein schwieriges Alter für einen Schulwechsel. »Ich bin rausgeschmissen worden«, erklärte India, und Ellen, die schon Geständnisse und Intimitäten kommen sah, wehrte ab. Manche Dinge behalte man besser für sich. Wie engherzig das von ihr gewesen war, erkannte sie jetzt. Um sich selbst zu schützen, hatte sie Indias Vertrauen zurückgewiesen, obwohl sie ihr hätte helfen können, leichter mit Gefühlen des Scheiterns und der Scham fertigzuwerden. Allerdings war sie sich nicht sicher, ob India überhaupt zu Scham fähig war.
Abgesehen von den letzten sechzehn Monaten hatte sie selbst fast nie damit zu kämpfen gehabt. Sie war es gewöhnt, akzeptiert zu werden, erwartete ganz selbstverständlich ein gewisses Maà an Erfolg. Anfangs war der Schock über ihre Entlassung aus Gildersleve Hall von Fassungslosigkeit und Verwirrung begleitet gewesen â und von dem Gefühl einer tiefen Demütigung, das jedes Mal von Neuem und besonders schmerzhaft aufflammte, wenn sie durch Zufall einem ehemaligen Kollegen oder Kommilitonen begegnete. Du bist jetzt in Gildersleve Hall, habe ich gehört. Dann die Richtigstellung und die Erklärungen â immer peinlich und schmerzhaft, für sie und für die anderen. Sie war beinahe schon darauf geeicht, die wechselnden Ausdrücke in den Gesichtern zu beobachten: zuerst Ãberraschung, dann bemühtes Taktgefühl, Mitleid, vielleicht auch eine Spur Schadenfreude. Sie begann, ihnen aus dem Weg zu gehen, diesen ehemaligen Freunden und Bekannten. Vor allem den Kollegen aus Gildersleve. Einmal, als sie im Gewühl am Bahnhof Kingâs Cross Martin Finch bemerkte, war sie davongelaufen, den Bahnsteig hinunter, und hatte sich immer wieder umgesehen, um sicher zu sein, dass er nicht hinter ihr herkam.
Sie hatte sechs Monate gebraucht, um eine neue Arbeitsstelle zu finden. Niemals war ihr der Himmel so bleiern und drückend erschienen wie während ihres Aufenthalts bei ihren Eltern in Wiltshire. Sie hatte alle Bücher gelesen, die sie immer hatte lesen wollen: Krieg und Frieden, Anna Karenina, Schuld und Sühne, düstere russische Romane, die zu ihrem Gemütszustand passten. Nach ihrer Entlassung aus Gildersleve hatte sie Marcus Pharoah oft bittere Ungerechtigkeit vorgeworfen, aber manchmal hatte sie sich auch gefragt, ob sie sich den Hinauswurf nicht vielleicht selbst zuzuschreiben hatte. Ob sie womöglich an ihre Grenzen gestoÃen war, ob er gar erkannt hatte, dass sie niemals gut genug sein würde.
Beruflicher Erfolg war ihr immer wichtig gewesen. Darüber hatte sie sich definiert. Niemals würde sie vergessen, wie sehr die Nachricht, dass sie ihre Stellung in Gildersleve Hall verloren hatte, ihren Vater schockiert hatte. Sie war tief getroffen gewesen, auch wenn dem ersten Schock augenblicklich Anteilnahme und Trost folgten, auch wenn ihre Familie ihr zeigte, dass sie sich auf ihre Liebe und Unterstützung verlassen konnte, und ihr Raum gab, ihre Wunden zu lecken. AbschlieÃen und neu anfangen, hatte ihr Vater ihr geraten, aber sie hatte nicht gewusst, wie sie das machen sollte, und sie hatte auch keine Vorstellung davon gehabt, wie lange der Prozess dauern würde. Allein das AbschlieÃen war ihr nicht leichtgefallen, aber der Neubeginn war ein regelrechter Kampf gewesen: Sie hätte die Wände ihres Zimmers mit Ablehnungsschreiben tapezieren können. Nach einiger Zeit hatte sie ihre Ansprüche heruntergeschraubt. Eine Anstellung im Zellkulturlabor einer Tuberkuloseklinik, als Laborassistentin in einer Oberschule â sie hätte alles genommen. Die glänzende Karriere, die sie einmal in Reichweite geglaubt hatte â Magistergrad, Forschung, eines Tages vielleicht sogar eine Dozentur â, rückte in weite Ferne. Sie mied jedes Risiko, wurde bescheiden in ihren Ambitionen. Sie hatte zu hoch hinausgewollt, war nicht gut genug gewesen für Gildersleve Hall. Ein zweites Mal würde ihr so ein Fehler nicht passieren.
In den Monaten ihrer Arbeit in Gildersleve Hall hatte sie sich daran
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