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An einem Tag im Winter

An einem Tag im Winter

Titel: An einem Tag im Winter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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ist wirklich nicht nötig.«
    Â»Es ist das Mindeste, was ich tun kann«, entgegnete India mit vollendeter Liebenswürdigkeit. Wie hatte ihre Mutter immer gesagt? Gute Manieren kosten nichts. Ein absolut zutreffender Satz, an den India sich stets zu erinnern versuchte. »Du musst mitkommen, Ellen«, beharrte sie. »Dann kannst du Sebastian kennenlernen.« Sie strahlte Ellen an. »Ach, ist das schön, dich zu sehen. Ich habe immer gewusst, dass wir uns wiederbegegnen würden. Ich hab’s gefühlt.«
    India Mayhew wohnte nur ein paar Schritte von der Buchhandlung entfernt, in einer Wohnung in der zweiten Etage eines Reihenhauses. Das kleine, aber gemütliche Wohnzimmer mit Blick auf den Garten hinter dem Haus präsentierte sich tadellos aufgeräumt, die Kissen waren aufgeschüttelt, Bücher und Zeitschriften ordentlich gestapelt. Die Zierstücke auf dem Kaminsims – eine Schäferin aus Dresdner Porzellan, ein Clarice-Cliff-Keramikkrug und ein venezianischer Glasbriefbeschwerer – waren in exakt denselben Abständen voneinander aufgereiht.
    Â»Sebastian!«, rief India.
    Ein Junge von vielleicht achtzehn Jahren kam aus einem anderen Zimmer. »Ellen«, stellte India sie vor, »das ist mein Bruder Sebastian. Seb, das ist Ellen Kingsley, eine alte Freundin von mir.«
    Na ja, dachte Ellen, ganz so hätte ich es nicht ausgedrückt. »Hallo, Sebastian. Es freut mich, dich kennenzulernen«, sagte sie.
    Sebastian Mayhew war ein schmächtiger Junge mit lockigem blondem Haar, etwas dunkler als Indias. Seine Augen waren blau wie die seiner Schwester, seine Gesichtszüge von beinahe klassischem Ebenmaß, und er hatte ein wahrhaft engelhaftes Lächeln. Nach so einem Jungen, dachte Ellen, würde man sich immer ein zweites und drittes Mal umsehen, so überirdisch schön war er. Auch India war schön, auch sie besaß diesen lieblichen Reiz, aber ihr fehlte die Sanftmut.
    Â»Ellen war mit mir zusammen in Hayfields«, erklärte India.
    Â»Fr-freut mich, d-dich kennenzulernen, Ellen«, sagte Sebastian. »Sch-schulen sind etwas Schreckliches, f-findest du nicht auch?«
    Â» Deine Schule war doch nicht schrecklich.« India wandte sich Ellen zu. »Sie hatten weder Mathe noch sonst welche von diesen grässlichen Fächern auf Sebastians Schule, nur Werken und Gartenarbeit.«
    Â»Das sind sehr nützliche Fächer«, meinte Ellen.
    Â»Für mich auf jeden Fall«, bestätigte Sebastian. »M-möchtest du vielleicht ein Scone? Ich habe gerade welche ge-gebacken.«
    Sie tranken den Tee am Küchentisch und aßen Scones dazu. India redete ohne Unterlass: über ihre Arbeit in einem Laden für Künstlerbedarf, ihre Freunde und einen Film, den sie kürzlich gesehen hatte. Ellen erinnerte sich, dass India nie zu den Schweigsamen gehört hatte. Sebastian hingegen war sehr still; Ellen fragte sich, ob es daran lag, dass seine Schwester ihn nicht zu Wort kommen ließ, oder ob sein leichtes Stottern ihn schüchtern machte. Obwohl, jetzt, da sie darüber nachdachte, fiel ihr ein, dass auch India in der Schule manchmal gestottert hatte, meistens wenn sie sehr aufgeregt oder verlegen gewesen oder ausgeschimpft worden war.
    Â»Und du, Ellen?«, fragte India. »Wo wohnst du?«
    Â»In Islington. Wir haben da ein Haus gemietet, mein Bruder Joe, ein paar von seinen Freunden und ich. Joe studiert Maschinenbau, ich arbeite in einem Krankenhaus im St. Pancras Way, ich hab’s also nicht allzu weit zur Arbeit.«
    Â»Ha, wir wohnen beide mit unseren Brüdern zusammen!«, rief India so begeistert, als wäre das eine kleine Sensation. »Ich würde deinen Bruder schrecklich gern kennenlernen. Und Sebastian sicher auch.«
    Â»Hm«, machte Sebastian, der sehr gesittet ein Scone gegessen hatte und jetzt mit gesenktem Kopf dasaß. »I-ich muss unbedingt mal nach F-florence sehen«, bemerkte er. »Ich war schon eine Woche nicht mehr bei ihr, und d-das letzte Mal hat sie sich Sorgen um Arthur gemacht. Auf Wiedersehen, Ellen, war supernett mit dir.«
    Â»Sebastian hat ständig mit einem Haufen alter Damen zu tun, denen er den Garten macht«, erklärte India, nachdem sich die Tür hinter ihrem Bruder geschlossen hatte. »Und alle füttern sie ihn mit Kuchen. Wenn ich so viel Kuchen äße wie er, wäre ich kugelrund, aber er geht ja auch sämtliche Wege zu Fuß, weil

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