An einem Tag im Winter
gewöhnt, einer Elitegruppe anzugehören, etwas Besonderes zu sein. Aber nun war sie nichts Besonderes mehr; sie war Durchschnitt, armselig gescheiterter Durchschnitt. Als das Schreiben kam, in dem die St.-Stephenâs-Klinik am St. Pancras Way ihr eine Stellung als Laborassistentin anbot, war sie vor allem anderen erleichtert gewesen und hatte postwendend angenommen.
An der nächsten Haltestelle musste Ellen aussteigen. Die Frau neben ihr stand ebenfalls auf. Ellen erbot sich, ihr die Einkaufstasche die Wendeltreppe im schaukelnden Bus hinunterzutragen. Sobald der Bus anhielt, bugsierte der Fahrer einen Kinderwagen auf den Bürgersteig hinaus. Der kleinere Junge wurde hineingesetzt, der gröÃere angewiesen, sich am Griff festzuhalten, dann wurden noch die Taschen aufgeladen.
Ellen ging die HauptstraÃe hinunter und bog ein paar Ecken weiter ab. Sie war Ende Juni des vergangenen Jahres in das ziemlich verlotterte, geräumige Haus in Islington eingezogen, das ihr Bruder und seine Freunde, alle Studenten, gemietet hatten. Es gab mehrere Daves, zwei Steves, einen Richard und einen Mike. Ihre Freundinnen waren Stenotypistinnen oder Krankenschwestern oder arbeiteten bei einer Zeitschrift oder eine Werbeagentur. Keiner im Haus hatte je von Gildersleve Hall gehört, keinen interessierte es auch nur im Geringsten, dass Ellen Kingsley dort mit Schimpf und Schande davongejagt worden war.
Ellen war die einzige Frau im Haus. Sie kam gut zurecht mit den Daves und Steves, wie sie die jungen Männer gern nannte. Manchmal aà sie mit ihnen zusammen, manchmal pokerten sie bis in die Nacht hinein. Wenn ihr die Witze zu kindisch wurden oder das Chaos in der gemeinsamen Küche zu groÃ, zog sie sich in ihr Zimmer zurück. Es war klein und schmal, auf der Nordseite gelegen und daher etwas dunkel, aber sie hatte es im Gegensatz zu den Zimmern, die sie bis dahin bewohnt hatte, im Wohnheim an der Uni und bei Mrs. Bryant in Copfield, selbst eingerichtet. Ihr erstes richtiges eigenes Zimmer. Ihre Eltern hatten ein Bett und eine Kommode von zu Hause beigesteuert, alles andere hatte Ellen in London gekauft â einen Schreibtisch samt Stuhl in einem Trödelladen, einen kleinen Teppich bei einem Billighändler in der Nähe, Vorhänge und Bettüberwurf hatte sie selbst genäht. Im Regal standen ihre Bücher und ein paar Andenken, ihre Kleider hingen an einer Stange. Zum ersten Mal wohnte sie nach ihrem eigenen Geschmack.
Hier las sie, schrieb Briefe, nähte, wenn es etwas zu nähen gab, und hörte Radio. So erfuhr sie von den groÃen Ereignissen des Jahres 1953: von der Krönung Elisabeths II., von der Besteigung des Mount Everest, der Entdeckung der Doppelhelix-Struktur der DNS. Manchmal hatte sie das Gefühl, als ginge das Leben ohne sie weiter, aufregend und neu, während sie auf ihrem Bett lag und Turgenew las oder Friday Night is Music Night im Radio hörte.
Vor dem Haus angekommen, sperrte Ellen auf und ging hinein. Auf dem Weg die Treppe hinauf bemerkte sie, dass das Bad frei war, raste in ihr Zimmer, holte Handtuch und Toilettentasche, raste wieder hinunter und verriegelte die Badezimmertür von innen. Während sie noch im angenehm warmen Wasser lag, klopfte Joe an und fragte, ob sie mitessen wollte. Nein, sagte Ellen, sie werde vielleicht in ein Konzert gehen. Was sie denn heute so getrieben habe? Ach, nichts Besonderes, antwortete sie und klatschte mit der flachen Hand Wasser gegen die Wannenwand. Sie habe eine alte Freundin wiedergetroffen, erzählte sie ihm. Aber war India wirklich eine Freundin? Oder fand man es nach einer Weile nur einfacher, sich Indias Sicht der Dinge anzuschlieÃen?
India traf sich in der Dean Street mit Garrett. Das Blau ihres Seidenkleids war so tief und rein wie das Blau der Trichterwinde. Das Kleid stammte aus einem Geschäft in der Bond Street. Ed, der in der City arbeitete, Mitte dreiÃig, etwas rundlich, von Haarausfall und einer unglücklichen Ehe geplagt, hatte es ihr geschenkt. Er war eines Tages nach der Arbeit bei ihr im Laden vorbeigekommen, eine Schachtel unter dem Arm, in der, in Seidenpapier eingeschlagen, das Kleid gelegen hatte. »Ich hoffe, du bekommst es nicht in den falschen Hals«, sagte er, als er ihr die Schachtel überreichte. »Ich habe es zufällig im Fenster gesehen und konnte nicht widerstehen. Es hat die gleiche Farbe wie deine Augen.« Dabei wurde er rot, und um ihm zu zeigen, dass
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