An einem Tag im Winter
er die U-Bahn nicht mag, und dazu noch die Gartenarbeit, die auch ganz schön anstrengend ist â kein Wunder, dass er dünn wie eine Bohnenstange bleibt. Ich gehe heute Abend mit meinem Freund in einen Klub. Komm doch mit, wenn du Lust hast.«
Ãberrascht von dem plötzlichen Themawechsel, antwortete Ellen: »Danke, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass dein Freund begeistert wäre, mich mitschleppen zu müssen.«
»Ach, Unsinn, Garrett würde sich wahnsinnig freuen, das weià ich. Du könntest hier bei uns essen, ich würde dir was Entsprechendes zum Anziehen leihen, und dann könnten wir alle zusammen losziehen.«
Ellen erinnerte sich, wie rücksichtslos India einen mit Beschlag belegen konnte. Man konnte sich wehren, so sehr man wollte, es passierte trotzdem. »Ich habe leider etwas vor«, sagte sie. »Ein andermal vielleicht.« Sie sah auf ihre Uhr. »Ich gehe jetzt besser.«
»Musst du wirklich schon los?«
»Ich habe noch einiges zu tun ⦠Es war schön, dich wiederzusehen, India.«
India hielt ihr Papier und Bleistift hin. »Du musst mir auf jeden Fall deine Adresse aufschreiben, damit ich dir das Geld für die Bücher zurückgeben kann.« Ellen ahnte schon, dass in Zukunft einiges auf sie zukommen würde.
Sie nahm den Bus zurück nach Islington. Auch oben, wo die Raucher saÃen, war alles voll, aber eine Frau mit zwei kleinen Jungen zog die Kinder auf ihren SchoÃ, sodass Ellen sich setzen konnte. Die Jungen bekamen jeder eine Rolle Drops, die sie andächtig auspackten.
Der Bus setzte sich schwankend in Bewegung, ratterte an einer blühenden Magnolie mit untertassengroÃen Blüten vorbei und an einem Mann, der, mit schwarzem Staub bedeckt, einen Sack Kohle auf dem Rücken schleppte. Die Schatten zartgrün schimmernder Linden, die bald Blätter bekommen würden, fielen auf die lange Menschenschlange, die sich vor einem Kino die StraÃe entlangzog. Ellen dachte an die aufgeräumte Wohnung, den schönen Jungen und India Mayhew. India, zwei Jahre jünger als sie, war zum Halbjahr â Ellen war damals schon in der Sechsten gewesen â als Neue in die vierte Oberschulklasse in Hayfields gekommen, ein Mädchen, dem offensichtlich alle Schutzmechanismen fehlten, unvorsichtig und unbesonnen, eine von denen, die immer auffielen, weil sie es einfach nicht schafften, sich angemessen zu verhalten. Immer steckte sie wegen irgendwelcher dummen Geschichten in Schwierigkeiten â verlorene Turnschuhe, Schwätzen im Unterricht. Immer wieder geriet sie an Klassenkameradinnen, die ihren Spaà daran hatten, andere zu verhöhnen und zu demütigen, immer wieder machte sie sich selbst zum Opfer, ohne zu merken, was auf sie zukam. Ellen hörte sie oft im Korridor, immer dieselben. Was machst du denn hier, Afrika, hier ist der Oberstufenflügel. Mal wieder verlaufen? Soll ich dir eine Karte zeichnen? Deine Schnürsenkel sind offen, Amerika, und deine Krawatte ist auch falsch gebunden. Ach, muss man da mal wieder ein bisschen heulen? Na los, lauf heim zu Mami. Hoppla, entschuldige, du hast ja keine Mami, oder?
Ellen jagte sie allesamt zum Teufel, und fortan klebte India an ihr wie eine Klette. Sie hatte überhaupt nicht die Absicht gehabt, sich mit India Mayhew abzugeben, aber manchmal blieb einem eben keine andere Wahl. Und im Grunde war ja auch nichts gegen India zu sagen, sie war einfach nur da, war immer um Ellen herum, hing an ihren Fersen wie ein Schatten â ein seltsames Mädchen mit Zügen, die zu stark ausgeprägt waren für das noch ungeformte Gesicht, und einem Körper, der in der zu groÃen Schuluniform beinahe versank, voll Eifer, wenn es besser Zurückhaltung gezeigt, plappernd wie ein Wasserfall, wenn es besser den Mund gehalten hätte. India Mayhew stand in dem Ruf, Geschichten zu erfinden, die Wahrheit auszuschmücken. In Hayfields wurden Lügnerinnen mit Verachtung gestraft, aber Ellen schaffte es so wenig, India über den Mund zu fahren oder eine Abfuhr zu erteilen, wie sie es geschafft hätte, ein unerwünschtes Katzenjunges zu ertränken.
Und dennoch hatte India bei aller Ungeschicklichkeit und Bedürftigkeit auch etwas Anziehendes. Die Welt, von der sie manchmal sprach â von einem Bruder, einer Tante, einem Leben im groÃstädtischen, nebligen London mit Konzerten und Cafés â, besaà einen Reiz
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