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An einem Tag im Winter

An einem Tag im Winter

Titel: An einem Tag im Winter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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sie zögerte. Die Vorstellung, in Bernies Kasino einen Haufen Geld zu gewinnen und damit alle Rechnungen bezahlen, ihre Schulden bei Ellen begleichen und sich vielleicht ein paar neue Kleider kaufen zu können, war verlockend. Aber dann bemerkte sie im Gedränge jenseits der Tanzfläche Michael Colebrook und stand auf. »Tut mir leid, Bernie, heute Abend kann ich nicht. Ein andermal vielleicht.« Sie schob ihren Stuhl ein Stück weiter zurück und schlängelte sich zwischen den Tanzenden hindurch auf die andere Seite des Raums.
    Michael drehte sich um, als sie ihm einen leichten Klaps auf die Schulter gab, und lachte. »India! Hallo! Hast du Lust zu tanzen?«
    India hatte Michael, der im Auswärtigen Amt tätig war, vor mehr als einem Jahr kennengelernt, als sie nach einem heftigen Streit mit ihrem damaligen Freund wütend davongestürmt war. Zu spät merkte sie, dass sie keinen Penny im Portemonnaie hatte, und bereitete sich auf einen langen Marsch von Southwark, wo sie unterwegs gewesen waren, nach Hause vor. Vorsichtshalber zog sie gleich ihre hochhackigen Schuhe aus, bevor sie losging. Auf der Waterloo-Brücke hielt Michael mit seinem Wagen an und fragte, ob er sie mitnehmen könne. Sie nahm sein Angebot an, weil ihre Füße bereits voller Blasen waren und er so sympathische braune Augen hatte. So ein Mann konnte kein Vergewaltiger oder Mörder sein. Er hatte sie wohlbehalten nach Hause gebracht, und seitdem waren sie Freunde.
    Â»Ehrlich gesagt, würde ich lieber gehen, wenn es dir nichts ausmacht«, antwortete sie.
    Als sie ein paar Minuten später im Taxi saßen, fragte sie: »Du könntest mir wohl nicht etwas Geld leihen, Michael?«, und er sagte ohne Zögern: »Aber natürlich, wie viel brauchst du denn?«
    Â»Zehn Pfund. Es könnte eine Weile dauern, bis du sie zurückbekommst.«
    Â»Nimm es als Geburtstagsgeschenk.«
    Â»Es ist nicht mein Geburtstag.«
    Â»Dann eben als Vor-Geburtstagsgeschenk.« Er zog zwei Zehnpfundnoten aus seiner Brieftasche und reichte sie ihr.
    Â»Das ist wirklich lieb von dir.« Sie schob die Scheine in ihre Geldbörse. »Wahrscheinlich sollte ich dich heiraten.«
    Â»Nein, solltest du nicht. Ich würde dich innerhalb eines Nachmittags zu Tode langweilen.« Die Scheibenwischer brummten gegen den Regen an, und sie legte ihren Kopf an seine Schulter.
    Das Labor befand sich in einem rechteckigen, einstöckigen Gebäude hinter dem Krankenhaus. Durch die Fenster hörte man das Klappern der Wäschewagen und die Stimmen der Dienstmännner, die gern auf dem asphaltierten Hof zwischen dem Labor und der Wäscherei standen und rauchten.
    Das Labor wurde von Professor Malik geleitet. Die Arbeit mit ihm unterschied sich deutlich von der unter Marcus Pharoah. Hier gab es nicht diese Konkurrenz, diesen Positionskampf. Malik war Anglo-Inder, schmal, um die sechzig, ein Mann, der selten die Stimme erhob und nie die Ruhe verlor, mochte sich die Arbeit auch noch so sehr häufen, mochten die Spezialisten noch so ungeduldig auf Ergebnisse dringen. Er blieb seinen Mitarbeitern gegenüber immer freundlich und behandelte die Frauen in seinem Team so höflich wie die Männer. Ellen mochte Professor Malik und vertraute ihm beinahe. Beinahe. Die Fähigkeit, einem anderen uneingeschränktes Vertrauen zu schenken, schien sie verloren zu haben.
    Mehrmals täglich wurden Blut- und Gewebeproben ins Labor geliefert, und das Labor arbeitete dann unter Hochdruck, um sie zu analysieren, Kulturen anzusetzen, sie auf Objektträger aufzubringen. Ellens Aufgabe war es, die Proben zu etikettieren, jedes einzelne Reagenzglas und Schälchen, und die Daten auf einen Kontrollbogen zu übertragen. Flüchtigkeitsfehler oder eine schlechte Handschrift durfte sie sich nicht leisten, denn von ihrer Arbeit hingen Menschenleben ab. In ihren freien Momenten, wenn die eine Lieferung abgefertigt und die andere noch nicht eingetroffen war, reinigte sie die Gläser. Auch hier war Sorgfalt höchstes Gebot, zu groß war die Gefahr der Kreuzkontamination. Wenn es am frühen Abend hektisch wurde, weil eine überdurchschnittlich hohe Zahl von Unfallopfern oder Patienten mit hohem Fieber auf die Stationen gebracht wurde, arbeitete sie länger. Es machte ihr nichts aus; im Labor herrschte eine Kameradschaftlichkeit, eine Atmosphäre einmütiger Zusammenarbeit, die sie an die besten Zeiten in Gildersleve

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