An einem Tag im Winter
»Bitte entschuldige, John, ich hätte dich nicht anbrüllen sollen.«
»Ist schon gut. Du versuchst, zu viel auf einmal zu tun, das ist alles.«
»Aber ich kann âs doch.« Ihre Stimme zitterte.
»Natürlich kannst du es. Aber vielleicht solltest du Schritt für Schritt vorgehen.«
»Ich bin so müde. Wenn ich nur schlafen könnte â¦Â« Ihre Augen waren nass. »Du liebst mich doch noch? Ich würde ja verstehen, wenn du genug von mir hättest, aber so ist es doch nicht, oder?«
Er legte ihr die Hand auf die Schulter. Ihr ganzer Körper vibrierte wie eine straff gespannte Saite. Sie lehnte den Kopf an seinen Arm, aber die Worte, die sie von ihm hören wollte, brachte er nicht über die Lippen. Sie waren wie Asche in seinem Mund, und die Bewegungen seiner Hand, als er ihr übers Haar strich, waren nichts als ein Reflex.
Die Wohnung der beiden Mayhews wurde Ellen zur Zuflucht, wenn sie es im unbekümmerten Chaos der Studentenbude in Islington nicht mehr aushielt. India und Sebastian hatten sie von einer Tante geerbt, der älteren Schwester ihrer Mutter. India zeigte Ellen ein Foto von Tante Rachel. Ein sympathisches, vernünftiges Gesicht unter einer vernünftigen Frisur, wie die Frauen sie im Krieg getragen hatten, blickte Ellen von dem Schwarz-WeiÃ-Porträt entgegen.
Als Ellen India nach ihren Eltern fragte, erklärte India: »Mein Vater ist bei einem Bombenangriff im Blitz umgekommen. Meine Mutter ist anderthalb Jahre später gestorben. Sie war Tänzerin, ziemlich berühmt. Hat beim Sadlerâs Wells Theatre getanzt.« Dann wechselte sie das Thema.
Ungefähr einmal die Woche lud India Ellen zum Abendessen ein. Diese Mahlzeiten bei den Mayhews verliefen eher unkonventionell: Auf Ochsenschwanzsuppe folgten Orangenschnitze oder Pommes Frites, die in der Bratpfanne zubereitet und mit Salz und Essig gewürzt wurden, und zum Nachtisch gab es staubtrockene Meringen von einer Bäckerei. India kochte, und Sebastian räumte ab. So war es immer. Ellen konnte es sich bald gar nicht mehr andersherum vorstellen. India warf ein paar mit Mehl eingestäubte Schollenfilets in die Pfanne und lieà sie brutzeln. Eine Zigarette in der einen Hand, einen Holzlöffel in der anderen, rührte sie eine KäsesoÃe zusammen. Zum Kartoffelschälen zog sie eine gestreifte Schürze über ein blaues Seidenkleid.
Sebastian wischte das Mehl vom Abtropfbrett der Spüle und schrubbte den Boden. Ellen erbot sich nach dem Essen jedes Mal, den Abwasch zu machen, und jedes Mal lehnte Sebastian dankend ab. Wenn das Telefon läutete, ging immer India hin. Wenn der Anruf Sebastian galt, was gelegentlich einmal vorkam, näherte sich Sebastian dem Apparat zögernd und hielt den Hörer in sicherem Abstand vom Ohr, bevor er sich meldete. Immer machte India Ellen auf, wenn sie kam, niemals Sebastian. Als wäre er sich nicht recht sicher, was ihn drauÃen erwartete. Selten begann Sebastian von sich aus ein Gespräch, nur manchmal, wenn sie alle drei am Tisch saÃen und aÃen, schob er die Hände ineinander, drückte sie nach auÃen gedreht von sich weg, zuckte kurz mit dem Kopf, bevor er aufschaute und mit dem engelhaften Lächeln, das Ellen gleich bei ihrem ersten Zusammentreffen mit ihm aufgefallen war, anfing, etwas zu erzählen, was er an diesem Tag erlebt hatte.
India ging gern in die Oxford Street einkaufen. Bei Selfridges rieb sie prüfend Stoffe zwischen den Fingern, wog sie auf der Hand, schüttelte den Kopf über den Schnitt und die Qualität einer Bluse. Dann schob sie ihre FüÃe in ein Paar hochhackige Pumps und stöckelte probeweise in ihnen hin und her. Ellen war immer leicht angespannt, wenn sie mit India einkaufte. Sie ertappte sich dabei, dass sie sie genau musterte, wenn sie aus der Umkleidekabine kam, darauf achtete, wie dick ihre Handtasche war, ob ihr Mantel lose oder knapp saÃ.
Die Sommermode brachte Baumwoll- und Leinenkleider mit eng sitzenden Oberteilen und weiten, schwingenden Röcken. Das Kleid, das Ellen sich kaufte, war korallenrot und schmal in der Taille, mit kurzen angeschnittenen Ãrmeln und einer Schärpe. Ja , sagte India und nickte beifällig, als Ellen aus der Kabine kam. Ihr ganzes Erspartes, dachte sie, für ein einziges umwerfendes Kleid, und nur weil India Mayhew sich irgendwie wieder in ihr Leben geschmuggelt hatte.
Manchmal kam Indias Freund,
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