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An einem Tag wie diesem

An einem Tag wie diesem

Titel: An einem Tag wie diesem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Stamm
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geboren wurdest, war ich mitten in der Pubertät«, sagte er.
    »Na und?«
    Er denke nicht oft an sein Alter, sagte Andreas, er habe nie das Gefühl gehabt, alt zu sein, sei sich alterslos vorgekommen. Nur dieser Husten habe ihn etwas verunsichert.
    An seinem vierzigsten Geburtstag hatte er ein kleines Fest gemacht, weil ihn Jean-Marc und Marthe dazu gedrängt hatten. Aber er hatte das Aufheben nie verstanden, das um runde Geburtstage gemacht wurde. Das Einzige, was ihn damals betrübt hatte, war, dass er nicht recht wusste, wen er einladen sollte. Er verstand sich mit den meisten seiner Kollegen gut, aber er hätte sie nicht als seine Freunde bezeichnet und hatte keine Lust, seinen Geburtstag mit ihnen zu feiern. Sylvie und Nadja konnte er nicht zusammen einladen, und auch ein paar seiner ehemaligen Geliebten, mit denen er noch gelegentlich Kontakt hatte, kamen als Gäste nicht in Frage. Schließlich war es eine kleine Gesellschaft gewesen, ein Abendessen, kein Fest. Und Jean-Marc und Marthe brauchten all ihre Überredungskünste, um Andreas dazu zu bringen, danach noch mit tanzen zu kommen.
    »Hast du Angst vor dem Befund?«, fragte Delphine.
    Sie hatten sich auf eine Bank gesetzt und schauten den Leuten zu, die vorbeispazierten.
    »Ich weiß nicht«, sagte Andreas. »Ich versuche, nicht daran zu denken.«
    »Dann lass uns etwas unternehmen. Lass uns ins Kino gehen.«
    Er habe keine Lust, sagte er. Er wolle nur ein wenig hier sitzen und den Leuten zuschauen und die Sonne genießen wie die Katzen, wie die alten Männer in den Parks. »Ist dir mal aufgefallen, wie viele alte Männer in der Stadt herumstehen, an Straßenecken, bei Baustellen. Überall stehen sie herum mit
erschreckten Gesichtern und schauen zu, wie die Zeit vergeht.«
    Sie spazierten weiter. Später aßen sie in einem Restaurant in der Nähe der Tour Montparnasse. Delphine sagte, sie sei noch nie auf dem Turm gewesen. Ob er Lust habe, mit ihr hinaufzufahren. Ein andermal, sagte Andreas, er sei etwas müde vom langen Spazieren.
    »Hast du gewusst, dass es hier eine Straße der Ankunft und eine Straße der Abfahrt gibt?«
    »Klar«, sagte Delphine, »und dazwischen liegt die Place Bienvenue.«
    »Das habe ich nicht gewusst.«
    »Dabei wohne ich erst seit einem Jahr hier«, sagte Delphine voller Stolz.

 
    Drei Tage später bekam Andreas einen Anruf aus der Arztpraxis. Die Sprechstundenhilfe sagte, das Krankenhaus habe die Resultate geschickt und bat ihn vorbeizukommen. Andreas fragte, ob der Befund positiv sei. Die Sprechstundenhilfe sagte, selbst wenn sie es wüsste, dürfte sie es ihm nicht sagen. Er fragte, ob er gleich vorbeikommen könne. In einer halben Stunde, sagte sie. Delphine war wieder nach Versailles gefahren wegen der Wohnung. Er schrieb ihr einen Zettel, er werde bald zurück sein.
    Auf dem Weg zur Praxis sagte er sich hundertmal, dass die Befunde nichts an seinem Zustand änderten, dass längst entschieden war, ob er krank war oder gesund. Aber es half nichts. Obwohl er langsam ging, schwitzte er, und es war ihm übel. Er schaffte es kaum die Treppe hoch.
    Die Sprechstundenhilfe sagte, er müsse sich noch etwas gedulden, und bat ihn, sich ins Wartezimmer zu setzen. Er hatte das Gefühl, sie schaue ihn mitleidig an. Das Wartezimmer war ein kahler Raum. An den Wänden entlang standen Stühle, in der Mitte war ein Tisch, auf dem Zeitungen und ein paar zerlesene Magazine lagen. Auf einem der Stühle saß eine Frau. Sie hatte ein kleines Kind auf dem Schoß, dessen halbes Gesicht von einem blauroten Feuermal bedeckt war. Das Kind wimmerte. Die Frau sprach mit leiser Stimme auf es ein und versprach ihm Schokolade, wenn es still sei. Andreas hatte sich ein Magazin vom Tisch genommen, eine katholische Elternzeitschrift. Er las einen Text über die Vorteile des Stillens, aber er konnte sich nicht konzentrieren. Die Sprechstundenhilfe kam und nannte einen Namen. Die Frau stand auf und nahm das Kind bei der Hand. Es begann zu schreien und klammerte sich mit der anderen Hand am Stuhl fest.
    »Jedesmal dasselbe Theater«, sagte die Mutter mit einem entschuldigenden Blick zu Andreas.
    Die Sprechstundenhilfe machte die Hand des Kindes vom Stuhl los, Finger für Finger, und gemeinsam schleppten die beiden Frauen das schreiende Kind hinaus in den Flur. Andreas starrte an die Wand, an der ein Bild von Marc Chagall hing, das vergilbte Plakat einer Ausstellung, die er selbst vor vielen Jahren gesehen hatte. Damals hatten ihm die Bilder des Malers gefallen,

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