An einem Tag wie diesem
jetzt konnte er nichts mehr damit anfangen. Er atmete ein paar Mal tief durch, dann stand er auf und verließ den Raum.
Die Sprechstundenhilfe stand mit dem Rücken zu ihm in der Tür des Behandlungszimmers. Die Mutter und das Kind waren nicht zu sehen, nur die schrillen Schreie des Kindes waren zu hören. Andreas schlich zum Ausgang. Er verließ die Praxis und schloss die Tür leise hinter sich.
Im Treppenhaus blieb er einen Moment lang stehen. Er hörte jemanden die Treppe heraufkommen und geriet in Panik. Es war ihm, als dürfe ihn niemand hier sehen. Er stieg ein Stockwerk höher und wartete, bis er unten eine Tür auf- und zugehen hörte.
Er trat aus dem Haus und ging schnell die Straße hinunter. Er fragte sich, wie viele Leute über seinen Zustand Bescheid wussten. Es beunruhigte ihn, dass es eine Akte gab, auf der sein Name stand, dass Bilder existierten von seinem Inneren und irgendwo Gewebe lag, das man ihm entnommen hatte. Jemand hatte eine Diagnose gestellt und Entscheidungen gefällt, jemand, den er noch nicht einmal kannte. Er hatte keine Wahl. Die Maschinerie hatte sich in Bewegung gesetzt. Wir machen eine Gewebeentnahme, hatte der Arzt gesagt. Es war keine Frage gewesen, noch nicht einmal ein Befehl. Einem Objekt erteilte man keine Befehle, mit einem Objekt verfuhr man. Die Ärztin, die den Eingriff vorgenommen hatte, hatte ihm die Hand gedrückt und sich vorgestellt. Ihren Namen hatte er vergessen. Die Operationsschwester und der Narkosearzt hatten keine Namen gehabt, nur eine Funktion. Sie waren so anonym für ihn gewesen wie er für sie.
Andreas ging immer geradeaus. Er hatte kein Ziel, er wollte einfach weg aus seinem Viertel. Er lief vor der
Krankheit davon, die sein Leben war, seine Arbeit, seine Wohnung, die Menschen, die er seine Freunde nannte oder seine Geliebten. Hier auf der Straße kannte ihn niemand, hier war er nur ein Passant wie tausend andere, die ihm entgegenkamen oder die er überholte. Hier hatte er keine Vergangenheit und keine Zukunft, nur eine flüchtige Gegenwart. Er musste immer weitergehen, er durfte nicht anhalten, nicht stillstehen, dann konnte ihm nichts geschehen.
Der Himmel war bedeckt, aber es war warm. Andreas schwitzte. Sein Körper fühlte sich fremd an, taub. Es war ihm, als bewege er sich ohne sein Zutun. Weiter, immer weiter. Er kam zur Seine und folgte ihr nach Westen. Er sah den Eiffelturm auftauchen und ließ ihn hinter sich. Er ging auf der schmalen Schwaneninsel auf die kleine Freiheitsstatue zu, das Modell jener Statue, die Frankreich den Amerikanern geschenkt hatte zur Feier der Unabhängigkeit. Während seiner ersten Zeit in Paris war er oft hier gewesen. Wenn er einsam war und traurig. Nachdem Fabienne in die Schweiz gereist war und später, wenn eine Frau ihn verlassen hatte, war er hierher gekommen und hatte lange unter den Trauerweiden gestanden und den Frachtschiffen nachgeschaut und die hässlichen Bürogebäude am südlichen Ufer betrachtet. Es war einer der wenigen Orte, an denen Paris nicht schön war, einer der wenigen Orte, die nicht von jenem silbernen Glanz überzogen waren, dem Glanz, den er so liebte, wenn es ihm gut ging, aber den er jetzt nicht ertrug.
Andreas stellte sich vor, wie er Delphine von seiner Krankheit erzählen würde, Nadja und Sylvie und
Jean-Marc. Heiß heute. Wie waren die Ferien? Und übrigens, ich habe Krebs. Alle würden es erfahren, seine Kollegen, die Verwaltung, die Schüler. Vielleicht würde man ihn operieren, ihn bestrahlen. Er würde eine Chemotherapie machen müssen. Er sah sich durch das Schulhaus gehen mit kahlem Kopf oder mit einer albernen Mütze. Alle starrten ihn an, alle wussten, wie es um ihn stand. Sie bemitleideten ihn. Sie maßten sich an, über ihn zu sprechen, über seinen Fall, seinen tragischen Fall. Sie tuschelten hinter seinem Rücken. Wenn sie mit ihm sprachen, taten sie, als sei nichts geschehen. Er würde ein Patient sein in allem, was er sagte und tat.
Er zündete sich eine Zigarette an, aber sie schmeckte ihm nicht, und er warf sie angewidert in den Fluss.
Sie würden anfangen, ihn zu meiden. Er erinnerte sich noch gut daran, wie vor Jahren ein Kollege, ein Französischlehrer, an einem Gehirntumor erkrankt war. Er selbst war ihm aus dem Weg gegangen. Er hatte nicht einmal am Umtrunk teilgenommen, zu dem der Kollege bei seinem Abschied eingeladen hatte. Er entschuldigte sich mit einer fadenscheinigen Ausrede. Als Monate später Geld gesammelt wurde für Blumen, spendete er einen
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