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An einem Tag wie diesem

An einem Tag wie diesem

Titel: An einem Tag wie diesem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Stamm
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viel zu hohen Betrag. Jetzt würde er es sein, auf dessen Gesundheit sie trinken, für dessen Grabschmuck sie sammeln würden.
    Es musste eine andere Möglichkeit geben. Es gab immer eine andere Möglichkeit. Vielleicht waren es wirklich nur Narben von einer überstandenen Tuberkulose, oder es war ein gutartiger Tumor. Selbst wenn die Resultate schlecht wären, wäre noch nichts verloren.
Das Labor konnte sich getäuscht haben. Das Gewebe konnte verwechselt worden sein. Die Wahrscheinlichkeit war winzig, aber sie bestand. Andreas wollte es nicht wissen. Sie konnten ihn nicht zwingen, es zu wissen. Solange er es nicht wusste, konnte ihm nichts geschehen. Er musste weg von hier. Er musste ein neues Leben beginnen. Das, dachte er, ist meine einzige Chance.
    Der Entschluss beflügelte ihn. Es war ihm, als habe er die Kontrolle über sein Leben zurückgewonnen, als habe er sein Leben vielleicht zum ersten Mal in der Hand, seit er nach Paris gekommen war. Er würde sich heilen von diesem Leben, das keines gewesen war. Von jetzt an würde er über sein Leben bestimmen. Er würde Entscheidungen fällen, einen nach dem anderen verlassen und schließlich sich selbst. Er rief Nadja an, aber sie war nicht zu Hause. Sylvie war wie üblich in Eile. Er fragte, ob sie morgen Zeit habe. »Morgen ist Samstag«, sagte Sylvie, »Familientag.«
    »Nur ganz kurz«, sagte Andreas. »Ich muss dir etwas sagen.«
    Sylvie lachte. Sie verabredeten sich für den nächsten Nachmittag in der Nähe ihrer Wohnung. Eine halbe Stunde, sagte sie, keine Sekunde mehr.
    In der Wohnung wartete Delphine auf ihn. Sie hatte sich Sorgen gemacht. Sie fragte, wo er so lange gewesen sei. Andreas ärgerte sich über die Frage und darüber, wie Delphine sich hier breit gemacht hatte und tat, als sei er ihr eine Erklärung schuldig. Er schaute sie schweigend an.
    »Was ist los?«
    »Ich habe den Befund bekommen«, sagte er. Er dachte einen Moment nach, dann lächelte er. »Alles ist in bester Ordnung.«
    »Wirklich?«, fragte Delphine, als könne sie es nicht glauben. Dann fiel sie ihm um den Hals. Sie küsste ihn ein paar Mal schnell auf den Mund und sagte, das müssten sie feiern. Er misstraute ihrer Freude, suchte in ihren Augen Zeichen der Enttäuschung. Die meisten Menschen – er nahm sich selbst nicht aus – zogen das Unglück, das nicht sie selbst betraf, dem Alltag vor. Aber Delphine schien wirklich froh zu sein. Sie konnte gar nicht aufhören ihn zu umarmen und rieb mit den flachen Händen über seine Brust, als müsse sie ihn wiederbeleben.
    Andreas lud sie ins
Vieux Moulin
ein, ein Restaurant, das nur wenige Schritte von seinem Haus entfernt war. Er ging selten hin, das Essen war zu teuer und das Personal schlecht gelaunt, weil das Lokal meist halb leer war. Sie aßen Austern und dann eine Hauptspeise, die ihnen der Kellner empfohlen hatte, und tranken eine Flasche Wein.
    »Ich habe gemeint, du seist Vegetarier«, sagte Delphine.
    Andreas sagte, er sei kein Vegetarier. Er esse einfach selten Fleisch. Aber jetzt habe er Lust darauf.
    »Ich bin neu geboren«, sagte er und zuckte mit den Schultern. »Ich fange noch einmal ganz von vorne an.«
    »Und machst alles anders«, sagte Delphine und lachte.
    »Und mache alles anders«, sagte Andreas.
    »Und jetzt gehen wir tanzen«, sagte Delphine.
    Andreas protestierte, aber sie ließ keine Widerrede zu.
     
    In der Diskothek war es sehr laut. Sie holten sich ein Getränk von der Bar und schauten eine Weile den Tanzenden zu. Dann nahm Delphine Andreas bei der Hand und zog ihn auf die Tanzfläche. Sie ging voraus, schlängelte sich durch die Menschenmenge. Sie ging im Katzenschritt eines Mannequins. Andreas starrte auf ihren Hintern, als sie sich umdrehte, seine Hand zur Seite schwenkte und ihn an sich zog. Sie strahlte, küsste ihn kurz auf den Mund, legte die andere Hand auf seine Schulter. Sie schien den Rhythmus der Musik nicht wahrzunehmen, bewegte sich in ihrem eigenen Rhythmus, bis Andreas die Führung übernahm. Da lachte Delphine auf, ein stummes Lachen im Lärm der Musik. Sie ließ den Kopf nach hinten fallen, und Andreas dachte, sie ist betrunken oder glücklich, es spielte keine Rolle, es war dasselbe. Auch er war betrunken vom Wein und von der lauten Musik und den blinkenden Lichtern. Und vielleicht war auch er glücklich oder nur erregt, er wusste es nicht. Er war nicht krank, einen Moment lang glaubte er es fast selbst. Er drehte den Kopf hin und her, während er tanzte, und sah sich die anderen

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