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An einem Tag wie diesem

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Titel: An einem Tag wie diesem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Stamm
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wisse es noch nicht. So lange, wie sie ihn ertragen könnten.
     
    Marthe und Jean-Marc saßen Schulter an Schulter auf einer rostigen Hollywood-Schaukel. Andreas schenkte Wein nach. Es war sehr still. Nur das Quaken von Fröschen war zu hören und manchmal ein Auto, das mit heulendem Motor vorüberfuhr.
    »Die fahren wie die Wahnsinnigen«, sagte Marthe. »Letztes Jahr hat sich einer umgebracht. Nur ein paar hundert Meter von hier.«
    »Selbstmord?«
    Jean-Marc schüttelte den Kopf. »Ein Betrunkener«, sagte er. »Mitten in der Nacht. Er hat die Kurve nicht erwischt und ist frontal in einen Baum gerast. Der Baum hat es überlebt.«
    »Jean-Marcs kleiner Bruder war hier, als es geschehen ist. Pascal, den hast du auch schon getroffen. Das ist der Autolackierer.«
    »Er hat sein eigenes Geschäft«, sagte Jean-Marc und stieß sich mit den Füßen vom Boden ab, und die Schaukel bewegte sich quietschend ein paar Mal hin und her. Marthe sagte, sie sei froh, dass Andreas hier sei. Jean-Marc sei den ganzen Tag unterwegs mit den Kindern, und sie langweile sich im Haus.
    »Die Kinder sind wie er. Nur Sport im Kopf. Aber mal ein Buch lesen ...«
    »Das stimmt nicht.«
    »Wann warst du das letzte Mal mit mir in einer Ausstellung? Oder im Theater?«
    Jean-Marc tat, als denke er nach.
    »Das mit der ... wie hieß die? Die Blonde«, sagte er schließlich.
    »Eine deutsche Künstlerin«, sagte Marthe. »Das war vor einem halben Jahr.«
    »Sie malt nackte Männer«, sagte Jean-Marc. »Das gefällt Marthe natürlich. Tut so, als interessiere sie sich für Kunst. Dabei will sie nur Schwänze sehen.«
    Marthe verdrehte die Augen und sagte, es gebe beileibe genug nackte Frauen in der Kunst. Warum nicht einmal nackte Männer. Es sei bezeichnend, dass so ein Aufheben darum gemacht werde. Die Bilder seien einfach schön. Außerdem male die Frau auch angezogene Männer. Und Landschaften. Sie fragte, ob Andreas Robert Mapplethorpe kenne. Er nickte.
    »Du hättest Jean-Marc sehen sollen in der Ausstellung«, sagte Marthe. »Er konnte sich nicht beruhigen.«
    »Die sehen nur so groß aus«, sagte Jean-Marc. »Wenn man mit einem Weitwinkelobjektiv fotografiert, sieht der Vordergrund immer viel größer aus. Total verzerrt.«
    Marthe lachte boshaft. Sie sagte, es sei schade, dass sie kein Weitwinkelobjektiv habe. Die beiden hatten offenbar etwas auszutragen. Andreas machte eine Bemerkung über die Blumenbilder von Mapplethorpe, und Jean-Marc fing wieder an, die Schaukel hin und her zu bewegen. Später sprachen sie über einen ihrer Kollegen,
einen Französischlehrer, der sich kürzlich hatte scheiden lassen.
    »Andreas hat es richtig gemacht«, sagte Jean-Marc. »Der hat gar nicht erst geheiratet.«
    »Bist du mit jemandem zusammen?«, fragte Marthe.
    »Das darf man ihn nicht fragen.«
    »Mit Delphine«, sagte Andreas. »Kennst du sie? Sie hat ein Praktikum bei uns gemacht im letzten Jahr.«
    Marthe und Jean-Marc schauten sich kurz an und schwiegen. Andreas fragte sich, ob Marthe etwas wusste über Jean-Marcs Seitensprung und ob sie sich deswegen gestritten hatten. Schließlich richtete Jean-Marc sich auf. Er schaute Andreas an mit einem aggressiven Blick.
    »Die schläft offenbar mit dem halben Lehrerzimmer«, sagte er.
    Marthe lachte laut, es klang künstlich. Jean-Marc stand auf und verschwand im Haus. Er ging langsam, als sei er sehr müde.
    »Wein?«, fragte Andreas.
    Marthe beugte sich vor und streckte ihm ihr Glas hin. Er schenkte nach. Er merkte, dass sie etwas sagen wollte und wartete. Sie trank.
    »Kalt«, sagte sie und lachte noch einmal. Sie sagte, sie und Jean-Marc hätten ein stillschweigendes Abkommen.
    »Was heißt das?«
    »Er kann machen, was er will. Solange ich nichts davon erfahre. Und solange er sich nicht verliebt.«
    »Und du?«
    »Ich natürlich auch.«
    Sie sagte, das mit dem Übereinkommen habe natürlich nicht funktioniert. Jean-Marc habe sich in Delphine verliebt. Er habe es ihr gestern Abend gestanden. Sie hätten die ganze Nacht kaum geschlafen. Sie hätten über eine Trennung gesprochen. Dass Andreas etwas mit Delphine habe, verändere natürlich alles. Sie dachte nach.
    »Vielleicht auch nicht«, sagte sie dann.
    Sie tranken schweigend ihren Wein. Nach einer Weile sagte Marthe, auch sie habe manchmal davon geträumt, mit einem anderen Mann etwas anzufangen.
    »Wir sind seit fünfzehn Jahren verheiratet. Wir sind ein eingespieltes Team. Aber manchmal sehnt man sich nach einem fremden Blick, nach einer fremden

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