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An einem Tag wie diesem

An einem Tag wie diesem

Titel: An einem Tag wie diesem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Stamm
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schien, aber es wehte ein kühler Wind vom Meer. Die Kinder rannten kreischend ins Wasser und ließen sich von den Wellen zurückwerfen. Andreas und Marthe hatten sich auf einen großen Felsen gesetzt und schauten ihnen zu. Andreas hatte Lust zu baden, aber er fror sogar in Kleidern. Er stand auf und ging hinunter zum Wasser. Marthe folgte ihm. Sie zogen die Schuhe aus und ließen die Ausläufer der Wellen über ihre Füße spülen.
    »Du bist so still«, sagte Marthe.
    »Ich weiß nicht, wie die Kinder das aushalten«, sagte Andreas. »Das Wasser ist eiskalt.«
    Er dachte daran, Marthe von seiner Krankheit zu erzählen. Aber dann tat er es nicht. Er durfte nicht
darüber sprechen. Niemand durfte es wissen. Das war seine einzige Chance.
    Marthe fing wieder an, von Philippe zu reden. Sie sagte, sie denke jeden Tag an ihn. So seltsam es klingen möge, aber sie fühle sich ihm jetzt näher als nach ihrer Trennung.
    »Jetzt gehört er niemandem mehr. Jetzt ist er frei.«
    »Wer hat das gesagt, man wünsche seinen Lieben immer den Tod?«
    »Das ist ein schrecklicher Satz«, sagte Marthe und lachte. »Ein tolles Thema für den Strand.«
    Sie rief nach den Kindern. Sie kamen aus dem Wasser und liefen zu der Stelle, wo sie ihre Sachen gelassen hatten. Sie trockneten sich ab und zogen sich an.
    Als sie kleiner gewesen waren, hatte Andreas sie manchmal gehütet. Er war mit ihnen ins Kino gegangen, hatte sich Kinderfilme angeschaut und dabei fast so viel Spaß gehabt wie sie. Er hatte ihnen Eis gekauft und war mit ihnen in den Park gegangen, und sie waren herumgerannt und hatten Unsinn gemacht. Sie hatten gelacht und geschrien vor Freude. Dann waren sie manchmal von einem Moment zum nächsten abweisend geworden und hatten nach Hause gewollt. Es war, als fürchteten sie sich plötzlich vor ihm. Auf dem Heimweg hatten sie sich kaum an die Hand nehmen lassen, und zu Hause waren sie Marthe um den Hals gefallen und hatten den Kopf in ihren Kleidern verborgen, und Marthe hatte sich entschuldigt und gesagt, sie wisse nicht, was die Kinder hätten. Was habt ihr denn, hatte sie gefragt, aber die Kinder hatten verstockt geschwiegen. Andreas hatte es ihnen nicht
übel genommen. Vielleicht verstand er sie besser als Marthe, als Jean-Marc, der sagte, sie sollten sich nicht so anstellen.
    Je älter die Kinder geworden waren, desto mehr hatten sie gelernt, ihre Gefühle zu beherrschen, ihre Liebe und ihre Abneigung und ihre Angst zu verbergen. Jetzt begrüßten sie Andreas freundlich, wenn sie ihn sahen. Sie fürchteten sich nicht mehr vor ihm, aber sie hatten auch ihre Zutraulichkeit verloren. Sie erzählten von der Schule und erprobten an ihm das wenige Deutsch, das sie gelernt hatten. Wie geht es Ihnen? Und Andreas korrigierte: Wie geht es dir? Mir geht es gut. Mir geht es gut.
    Michel, der Junge, fragte Andreas, ob er die Schiffe gesehen habe in Brest. Marthe sagte, dieses Jahr finde wieder das große Hafenfest statt.
    »Warst du nicht vor vier Jahren schon hier?«
    Andreas nickte, und Michel erzählte begeistert von der
Sedov
, einem russischen Schulschiff, das sie vor ein paar Tagen besichtigt hatten.
    »Es ist das größte Segelschiff der Welt. Hundertzwanzig Meter lang.«
    »Michel will jetzt Seemann werden«, sagte Marthe lachend.
    »Auf einem Segelschiff«, sagte der Junge.
    »Das Boot kommt aus Murmansk. Weißt du, wo das ist? Ganz weit oben im Norden. Und dann immer auf hoher See. Da hast du keine Mama, die auf dich aufpasst.«
    Als sie zurück zum Haus kamen, saß Jean-Marc am Küchentisch und las den Sportteil der Zeitung. Er sagte,
er habe Kopfschmerzen. Marthe sagte, er sei selber schuld. Die Kinder verschwanden in den oberen Stock. Sie mussten spüren, dass etwas nicht stimmte. Marthe stellte sich hinter Jean-Marc und legte ihm die Hände auf die Schultern. Er drehte den Kopf und schaute zu ihr auf mit einem hündischen Blick. Die Szene war rührend und erbärmlich zugleich, zwei Ertrinkende, die sich aneinander klammerten. Andreas sagte, er werde den Zug um Viertel vor vier nehmen. Marthe sagte, er solle doch noch ein paar Tage bleiben. Er schüttelte den Kopf, und sie sagte, sie werde ihn zum Bahnhof fahren.
    »Ich mache das«, sagte Jean-Marc.
     
    Die Rückfahrt schien Andreas länger als die Hinfahrt, obwohl Jean-Marc schnell fuhr. Die kurvige Straße führte den Meeresarm entlang ins Landesinnere, dann überquerte sie einen Fluss und führte zurück zur Küste. Jean-Marc schwieg während der ganzen Fahrt, und Andreas

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