An einem Tag wie diesem
irgendetwas über sein Leben aufzuschreiben, schien ihm absurd. Nur diese Kalender hatte er aufbewahrt, in denen die Jahre in Stichworten zusammengefasst waren, die Namen von Menschen, die er getroffen hatte, Ferienorte, Geburtstage, Prüfungs- und Arzttermine. In den ersten Jahren in der Stadt hatte er sich die Titel aller Filme notiert, die er sich angeschaut, die Namen der Restaurants, in denen er gegessen hatte. Aber mit der Zeit war er immer nachlässiger geworden. Er ging ohnehin immer in dieselben Restaurants, und
im Kino schaute er sich Filme an, die nicht von Belang waren. Mit Nadja und Sylvie traf er sich so regelmäßig, dass er sich die Termine nicht mehr aufschreiben musste. In den letzten Jahren gab es immer mehr Monate, die im Kalender ganz weiß geblieben waren, die keine Spuren hinterlassen hatten. In einem der Kalender lag eine Liste aller Frauen, mit denen er geschlafen hatte. Er las die Namen durch. Zu einigen fiel ihm kein Gesicht mehr ein oder erst, nachdem er lange nachgedacht hatte. Die Liste war ein paar Jahre alt, und er ergänzte sie um einige Namen und zerknüllte sie dann und warf sie weg.
Eine Liste von vielen, dachte er. Sein Leben war eine endlose Abfolge von Schulstunden, von Zigaretten und Mahlzeiten, Kinobesuchen, Treffen mit Geliebten und Freunden, die ihm im Grunde nichts bedeuteten, unzusammenhängende Listen kleiner Ereignisse. Irgendwann hatte er es aufgegeben, dem Ganzen eine Form geben zu wollen, eine Form darin zu suchen. Je weniger die Ereignisse seines Lebens miteinander zu tun hatten, desto austauschbarer waren sie geworden. Er war sich manchmal vorgekommen wie ein Tourist, der von einer Sehenswürdigkeit zur nächsten hetzt in einer Stadt, von der er noch nicht einmal den Namen kennt. Lauter Anfänge, die nichts mit dem Ende zu tun hatten, mit seinem Tod, der nichts anderes bedeuten würde, als dass seine Zeit abgelaufen war.
Am Wochenende schauten sich die Eltern von Frau Cordelier die Wohnung an. Sie mochten sie, und noch am selben Tag wurde ein Vorvertrag aufgesetzt. Die
Cordeliers wollten alle Zimmer streichen lassen und die Böden schleifen. Die Möbel wollten sie nicht übernehmen.
Der Immobilienhändler sagte, den definitiven Vertrag könnten sie frühestens in eineinhalb Monaten unterzeichnen. Andreas sagte, er werde in ein paar Tagen ausziehen und ins Ausland verreisen. Der Immobilienhändler sagte, er könne jemanden bevollmächtigen, ihn vor dem Notar zu vertreten. Das Geld werde ihm nach Vertragsunterzeichnung überwiesen.
Am Montag holte ein Trödler die Möbel. Als er die Statue der Jagdgöttin einpacken wollte, sagte Andreas, die werde er behalten. Der Trödler sagte, sie sei wertlos. Für die Möbel bot er Andreas einen viel zu niedrigen Betrag. Nur aus Prinzip stritt sich Andreas mit ihm und trieb den Preis ein wenig in die Höhe.
Alles, was er jetzt noch besaß, passte in einen Koffer, in denselben roten Kunstlederkoffer, mit dem er vor achtzehn Jahren in die Stadt gekommen war: ein paar Kleider, Toilettensachen, ein Schlafsack, Fabiennes Briefe, die Musikkassetten und die zwei Bücher, die er behalten hatte. Nicht einmal sein Adressbuch packte er ein. Er fühlte sich sehr leicht, von allem Ballast befreit. Es war ihm, als habe er die ganzen Jahre geschlafen, als sei er taub geworden wie ein Körperteil, das man lange nicht bewegt hat. Jetzt empfand er jenen seltsam lustvollen Schmerz, den man spürte, wenn das Blut zurück in den Arm oder das Bein schießt. Er war noch am Leben, er bewegte sich.
In dieser Nacht schlief Andreas zum letzten Mal in der Wohnung. Er legte sich im Schlafsack auf den
Boden wie in den ersten Nächten, die er hier verbracht hatte, und wie damals war ihm die Wohnung fremd und ein bisschen unheimlich. Er schlief schlecht. Als er erwachte, dämmerte es. Er stand auf und ging durch die Wohnung. Seine Schritte waren sehr laut in den leeren Räumen, und sein Husten bekam durch den Hall etwas Bedrohliches. Andreas trat ans Fenster und öffnete es. Es hatte in der Nacht ein wenig geregnet, und die Zementplatten im Hof glänzten gleichmäßig dunkel. Er zündete sich eine Zigarette an und rauchte sie, obwohl sie ihm nicht schmeckte. Er beobachtete eine Amsel, die laut pfeifend von Ast zu Ast hüpfte. Als er das Fenster schloss, schreckte sie auf und flog davon. Er hatte noch ein wenig bleiben wollen, um sich von der Wohnung zu verabschieden, die er nie wiedersehen würde, aber sie interessierte ihn plötzlich nicht mehr. Es
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