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An einem Tag wie diesem

An einem Tag wie diesem

Titel: An einem Tag wie diesem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Stamm
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hinter ihn und schob ihn weg vom Fenster und zog den Vorhang zu. Ihr Gesicht sah verhärmt aus und müde. Dann kam Herr Cordelier in den Hof. In den Händen hielt er zwei Tüten mit leeren Flaschen. Er warf die Flaschen in eine der grünen Recyclingtonnen. Er sagte etwas und lachte laut. Sein Lachen klang hämisch. Der Junge
spielte Ball im Hof. Jemand öffnete ein Fenster und rief, er solle verschwinden. Der Junge ging durch den Hof. Er versuchte, nicht auf die Rillen zwischen den Zementplatten zu treten. Er hüpfte von Platte zu Platte. Seine Mutter rief aus dem Fenster, warum er nicht mit den anderen spielen gehe. Der Hof öffnete sich, und eine weite Landschaft war zu sehen. Andreas fuhr mit dem Fahrrad. Die Landstraße führte immer geradeaus. Er hatte Gegenwind und schien überhaupt nicht mehr vorwärts zu kommen, aber als er umdrehte, wehte der Wind wieder von vorn. Er stieg ab und schob das Fahrrad über die flache Ebene. Es war ihm, als bewege er sich nicht. Am Himmel zogen dunkle Wolken vorüber, aber er wusste, es würde nicht regnen, noch nicht. Dann regnete es. Andreas saß in seinem Zimmer unter dem Dach. Der Regen trommelte auf das Dachfenster. Es war kühl im Zimmer. Andreas legte sich ins Bett. Er las ein Buch, aber die Worte verschwammen vor seinen Augen. Er war auf einer einsamen Insel mit ein paar anderen Kindern. Er wusste nicht, wie er hierher gekommen war. Sie waren am Strand. Als es dunkel wurde, gingen sie in den Wald, einen Urwald. Sie kamen zu einem verfallenen Mietshaus, einer ausgebombten Ruine. Die Kinder standen vor dem Haus und redeten darüber, was sie machen sollten. Andreas schien die anderen Kinder zu kennen. Sie waren älter als er.
    Das Telefon weckte Andreas. Er schaute auf die Uhr, es war fünf. Er zögerte einen Moment, dann nahm er ab. Es war der Immobilienhändler. Er sagte, es sehe gut aus. Die Cordeliers seien sehr interessiert. Die Frau
habe versucht, den Preis zu drücken, aber er habe nicht nachgegeben. Am Wochenende kämen die Eltern der Frau aus Perpignan, um sich die Wohnung anzuschauen. Ob er da sein werde? Andreas sagte, er wisse es noch nicht.
    »Ich kenne diese Art von Leuten«, sagte der Immobilienhändler. »Wenn ihnen die Wohnung gefällt, geht es schnell.«
    Andreas leerte den Wandschrank im Flur. Er wunderte sich, wie viele Dinge er besaß, die er längst vergessen hatte. Ganze Schachteln voller Notizen, Briefentwürfe, Unterlagen. Er blätterte darin, las das eine oder andere und warf dann alles weg ohne zu zögern. Ein paar Tonbandkassetten, die er vor Jahren aufgenommen und sorgfältig beschriftet hatte, behielt er für die lange Fahrt.
    Er fand eine Schachtel mit Briefen und Postkarten von Freunden, von seiner Mutter. Briefe, die sie ihm während seiner Zeit bei der Armee geschrieben hatte und in denen sie Alltägliches erzählte, von Krankheiten, Ausflügen, Besuchen. Die letzten Spuren eines Lebens, das ausgelöscht war. Spuren, die keine waren, nichts als Worte ohne Gewicht. Die Briefe von Fabienne lagen zuunterst in der Schachtel. Er hatte sie irgendwann gesammelt, in Packpapier gewickelt und das Paket versiegelt. Er brach das Siegel auf und las ein paar der Briefe. Er war überrascht, wie belanglos sie waren.
    Fabienne schrieb, sie müsse eine Arbeit über den Zauberberg von Thomas Mann schreiben, ob er das Buch gelesen habe? Sie sei mit Freunden in einem Restaurant
gewesen, in dem man mit den Händen esse wie die alten Gallier. Sie habe drei Amerikaner kennen gelernt, die sie fotografiert hätten. Warum hatte sie ihm das geschrieben? Einmal war sie im Oktober mit Freunden in die Normandie gefahren und hatte im Meer gebadet, obwohl das Wasser kalt war. Ein andermal hatte sie Austern gegessen und war krank geworden davon. Andreas wunderte sich über die vielen Freunde und Freundinnen, von denen Fabienne schrieb. In einem Brief steckte eine Fotografie, auf der Fabienne zu sehen war inmitten einer Gruppe von jungen Leuten. Alle trugen bunte Papierhüte und lachten betrunken in die Kamera. Auf der Rückseite des Bildes stand: »Alles Gute zum neuen Jahr.« Alles Gute zu einem neuen Jahr, das längst vorüber war und an das Andreas sich nicht erinnerte. Er wickelte Fabiennes Briefe wieder in das Packpapier und legte das Paket auf den Tisch. Die übrigen Briefe warf er weg.
    In einer anderen Schachtel fand er seine alten Kalender, kleine Leporellos, in denen für jeden Tag nur eine Zeile Platz war. Er hatte nie ein Tagebuch geführt, der Gedanke,

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