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An einem Tag wie diesem

An einem Tag wie diesem

Titel: An einem Tag wie diesem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Stamm
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schloss die Augen und döste vor sich hin. Sie waren fast eine Stunde vor Abfahrt des Zuges in Brest.
    »Wollen wir etwas trinken?«, fragte Andreas aus Höflichkeit.
    Sie gingen in ein Café neben dem Bahnhof. An einigen Tischen saßen Seeleute in dunkelblauen Uniformen.
    »Die müssen von der
Sedov
sein«, sagte Jean-Marc. »Das ist ein russisches Schulschiff. Die sind hier für das große Hafenfest.«
    »Michel hat davon erzählt«, sagte Andreas.
    Sie standen an der Bar und tranken Kaffee. Jean-Marc
schien etwas sagen zu wollen. Er brauchte ein paar Anläufe, bis er die Frage endlich stellte.
    »Bist du wirklich mit ihr zusammen?«
    »Es ist nichts Ernsthaftes«, sagte Andreas.
    Er sah Jean-Marc an, aber der hatte den Blick gesenkt und schien wieder nach Worten zu suchen. Schließlich sagte er, er nehme es Andreas nicht übel. Er habe ja nicht wissen können ...
    »Dass?«, fragte Andreas.
    »Ich weiß nicht, was ich tun soll«, sagte Jean-Marc. »Ich kann sie nicht vergessen. Dabei weiß ich noch nicht einmal, was sie von mir hält. Habt ihr über mich gesprochen?«
    »Nein«, log Andreas.
    »Wie war sie?«
    Andreas sagte, er wisse nicht, was Jean-Marc meine.
    »Wie sie war im Bett.«
    Andreas sagte, Delphine habe ein paar Tage bei ihm gewohnt. Jean-Marc tat ihm leid. Wie er litt und noch nicht einmal versuchte, es zu verbergen. Es hatte etwas Beschämendes, dass ein Mann in seinem Alter sich nicht besser beherrschen konnte.
    »Ich bin verrückt nach ihr«, sagte Jean-Marc. »Meinst du, sie schläft wirklich mit jedem?«
    »Unsinn«, sagte Andreas. »Sie hat gesagt, du hättest ihr die Fotos deiner Kinder gezeigt.«
    »Also habt ihr über mich gesprochen. Was hat sie gesagt?«
    »Sie hat gesagt, du seist ein Idiot.«
    Jean-Marc hob ruckartig den Kopf. Er schaute Andreas an mit einem fragenden Blick, dann senkte er den
Kopf wieder und sagte, er müsse los. Seine Stimme klang müde und war kaum zu hören. Bis bald, sagte Andreas. Jean-Marc hob die Hand zum Gruß und ging. Andreas sah zu, wie er die Straße überquerte, ins Auto stieg und einen Moment lang unbeweglich da saß, bevor er losfuhr. Andreas fragte sich, weshalb er sich mit Jean-Marc angefreundet, weshalb er so viel Zeit mit ihm verbracht hatte. Eigentlich war er ihm vollkommen gleichgültig.
     
    Um acht war er wieder in Paris. Er fühlte sich nicht gut und nahm ein Taxi nach Hause. Auf dem Anrufbeantworter waren zwei Nachrichten. Die erste war von Nadja. Sie sagte, sie verzeihe ihm, und fing dann gleich wieder an, ihm Vorwürfe zu machen. Er löschte die Nachricht, bevor er sie zu Ende gehört hatte. Die zweite war von der Arztpraxis. Eine Frauenstimme sagte, er solle bitte zurückrufen. Die Stimme war vollkommen gefühllos. Auch diese Mitteilung löschte Andreas.
    Er fing an, seine Sachen zu ordnen. Erst verstaute er alles in Kartons, die er aus dem Keller geholt hatte. Dann fing er an, immer mehr Dinge wegzuwerfen. Er hatte die Bücher aus dem Regal genommen und auf dem Boden zwei Stapel gemacht. Er schaute sie noch einmal durch und zog ein Buch von Jack London heraus und jenes von dem Au-pair-Mädchen. Alle anderen warf er weg. Die vollen Müllsäcke stellte er in den Flur. Es war elf Uhr. Die Arbeit hatte ihn erschöpft. Er legte sich aufs Bett, ohne sich auszuziehen oder das Licht zu löschen.
    Mitten in der Nacht erwachte er durch einen Hustenanfall. Er stand auf und ging zur Toilette. Ihm war kalt. Er stellte die Gasheizung an, schlüpfte in den Kleidern unter die Decke und löschte das Licht. Die Stand-by-Lichter glimmten in der Dunkelheit. Wenn einmal keine Menschen mehr auf der Welt sind, dachte er, dann werden immer noch die Stand-by-Lichter glühen, und die Uhren an den Elektrogeräten werden eine Zeit zählen, die es nicht mehr gibt, bis die letzten Kraftwerke sich abgeschaltet haben und die letzten Batterien leer sind.
    Am nächsten Morgen erwachte er spät. Es war warm im Schlafzimmer, und die Luft war trocken. Er hatte wieder einen Hustenanfall, der nicht aufhören wollte. Nachdem er Kaffee getrunken hatte, fühlte er sich etwas besser. Er räumte weiter auf. Die Sachen, die er gestern in Kartons verstaut hatte, nahm er heraus und warf sie weg.
    Am Mittag trug er die Müllsäcke in den Hof. Er ging zu McDonald’s und holte sich etwas zu essen. Als er zurückkam, war eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter. Es war der Immobilienhändler, der sagte, er habe einen Interessenten für die Wohnung und werde in einer Viertelstunde

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