An Paris hat niemand gedacht
erzählt, sie wäre bereits achtzehn. Nein, dass der besoffene Kerl, der vor ihrer Tür herumgebrüllt hatte, ein Vater sei, der seine Tochter sucht, konnten sie nicht ahnen. Seinen Beschimpfungen sei das nicht zu entnehmen gewesen. Im Übrigen war der Herr nicht in einem Zustand, der es wünschenswert gemacht hätte, ihn ins Haus zu lassen. Hätte er freundlich um Auskunft gebeten, sie hätten ihm höflich geantwortet. »Wenn Sie jetzt bitte gehen könnten, wir haben mit dieser Sache nichts zu tun.«
Die anderen hatten Angst, die Polizei würde wiederkommen; sie hatten auch ohne Marta schon Schwierigkeiten genug am Hals. Keiner sprach es aus, aber Marta konnte es ihnen anmerken.
Zwei Stunden später zog sie die Tür hinter sich ins Schloss und versuchte zu erkennen, ob in den Eingängen rechts und links jemand stand. Auf der Straße war kein Mensch zu sehen. Kleine Punkte feuchter Kälte legten sich auf ihr Gesicht; der erste Schnee in diesem Jahr dämpfte ihre Schritte. Sie versuchte die Lichtkreise der Straßenlaternen zu meiden, gleichmäßig zu gehen, nicht schneller zu werden, wenn sich ein Passant von hinten näherte, den Atem in ein ruhiges Gleichmaß zu zwingen, nicht aufzufallen. Als es hinter der nächsten Kreuzung endlich gelb von den Schildern einiger wartender Taxis leuchtete, musste sie nur noch an der Imbissbude vorbei, wo sich zwei Gestalten mit Bierdosen in der Hand an einen runden Stehtisch lehnten. »Na, Kleine, so allein unterwegs?«
Die letzten Meter rannte sie, hörte ihre Turnschuhe auf den Asphalt klatschten, während ihre Tasche in zeitversetztem Rhythmus gegen ihr Knie schlug. Schlitternd kam sie an einem der Wagen zum Stehen und zerrte am Türgriff.
»Sind Sie frei?«
»Wo soll’s denn hingehen?«
Heiko hatte ihr den Zettel mit der Adresse in die Hand gedrückt.
»Ich weiß nicht, wie weit das ist. Reichen dreißig Mark?«
Der Fahrer nickte. »Geht in Ordnung. Kann aber dauern bei dem Scheißwetter.«
Das Stechen in der Brust ließ langsam nach. Auf der Frontscheibe zogen die Wischer fächerförmige Spuren, die sich gleich wieder mit dicken weißen Tupfen füllten. Sie erreichten Winnerod im Schneeregen. Die Rücklichter des Taxis verschwanden in der wabernden Dunkelheit, während Martas Kleider die eiskalte Nässe aufsogen. Sie sah sich um, niemand war ihr gefolgt. Der Zettel, der langsam aufgeweicht war, blieb in ihrer Handfläche kleben. Nummer eins, das Haus neben der Kirche. Im oberen Stockwerk brannte Licht, eine Lampe über der schweren Holztür tauchte die leeren Blumentöpfe, die rechts und links die ausgetretenen Stufen säumten, in flockiges Milchweiß. Das sah schön aus.
Eine kräftige Frau mit kurzem silbergrauem Haar öffnete und sah sie fragend, aber nicht unfreundlich an. Sie muss vor ungefähr dreißig Jahren umwerfend ausgesehen haben, dachte Marta und hatte keine Ahnung, was sie dem fragenden Blick entgegnen sollte. Selbst das erste Wort hatte Raphaela ihr abgenommen:
»Weißt du eigentlich, wie spät es ist?«
»Entschuldigen Sie bitte. Ich habe Ihre Adresse von Heiko Janssen. Er meinte, ich könnte eventuell ein oder zwei Tage hier übernachten.«
»Haben sie euch doch noch das Haus geräumt?«
»Nein, ich …«
»Komm erst mal rein, du bist ja ganz nass.«
Sie brachte Marta eine Wolldecke, setzte sie vor den Ofen, drückte ihr ein Glas mit selbst aufgesetztem Kräuterlikör in die Hand.
»Möchtest du jemanden anrufen?«
»Nein, bitte nicht.«
»Aber einen Teller Suppe, den magst du schon, oder?«
Später richtete sie das Gästezimmer her, und Marta schlief das erste Mal seit Wochen acht Stunden am Stück, bis sie von einer schnurrenden Katze und dem Duft von Kaffee und gebratenem Speck geweckt wurde. Raphaelas warmes »Guten Morgen, Marta!« sollte der Lieblingsmorgenklang der folgenden Jahre werden.
Raphaela. Immer wieder sagte Marta sich, dass der Unfall auch geschehen wäre, wenn sie noch bei ihr gewohnt hätte.
Es klingelt an der Tür, zweimal lang, dreimal kurz: Valentin. Marta drückt auf den Türöffner, während der Hund zur Wohnungstür rennt und aufgeregt bellend daran hochspringt.
»Na, Prinzessin, Flügel gebrochen?«
An seinen Nägeln kleben Farbreste, was seltsam zu seinem fein gebügelten grauen Anzug aussieht: ein etwas größeres, langhaariges, deutlich jünger aussehendes und wesentlich besser angezogenes Abbild von Paul. Als er sie küsst, fliegt ihr eine Mischung aus Terpentingeruch und Aftershave in die Nase, die sie
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