An Paris hat niemand gedacht
stimmt’s?«
Sie waren Schwestern, hätten einander beschützen müssen. Jede wollte oder konnte nur im Alleingang die eigene Haut retten. Selbst Greta hatte sich inzwischen, wie Marta bei ihrer ersten
Begegnung mit Kati erfuhr, von Richard getrennt und war ihren eigenen Weg gegangen, hatte angeblich sogar Karriere mit irgendwelchen Modeläden gemacht, was schwer vorstellbar war. Sophia arbeitete als Privatdozentin an der Uni, wo, wusste Marta nicht. Sie wollte sich den Rest der Geschichte damals nicht anhören. Vielleicht könnte sie im Internet etwas über Greta oder Sophia rauskriegen. Nein, lieber nicht. Was sollte das bringen?
Die Vorstellung, dass man sich zufällig gegenüberstehen könnte: in der U-Bahn, im Schuhgeschäft, auf dem Bahnhofsvorplatz. Oder durch ein Restaurant gehen und merken, dass man von einem Augenpaar angestarrt wird. Feindlich, freundlich, ärgerlich? Würden sie einander überhaupt erkennen? Sie waren sich abhandengekommen, hatten versäumt, einander beizustehen. Vermutlich fehlte allen in dieser Familie das gleiche Gen, das die Fähigkeit ausbildete, füreinander zu sorgen.
Vielleicht hatten Sophia und sie zu früh mit den Liedergeschichten aufgehört.
Als sie nach Deutschland zurückgekehrt waren, wurde es schlimmer. Das Haus in bester Hanglage am Waldrand, das der Großvater mit seinen eigenen Händen, ohne einen von Richards Plänen, gebaut hatte, stand bei ihrer Ankunft bezugsfertig da. Am Flughafen bereits wurde der Schlüssel feierlich ausgehändigt. Nur der Großvater lächelte. Der einzige Sohn, der fünf Jahre in der Fremde sein Glück gesucht hatte, sollte wieder heimisch werden im Dorf seiner Kindheit. So hatte er es sich gedacht.
»Mein Vater war Maurermeister, ein starker Mann bis ins hohe Alter«, hörte Marta Richard einmal sagen. »Ich bin Architekt. Das sind die, die den Maurermeistern sagen, was sie zu tun haben!«
Richard hat sich kein eigenes Haus in Deutschland gebaut, bezog
das Geschenk seines Vaters missmutig, aber widerspruchslos und ist, soweit Marta weiß, bis heute nicht ausgezogen.
Sophia bekam auf eigenen Wunsch ein Zimmer im Keller, und nur Marta wusste, dass sie das Fenster als Ein- und Ausgang benutzte, um Richards Kontrolle zu entgehen. Bis zu dem Tag, als er sie erwischte.
Es war ein laut schmatzendes Geräusch im Wechsel mit unterdrücktem Schluchzen, das Marta nachts geweckt hatte. Auf dem Absatz der Wendeltreppe, durch deren Zwischenräume man den gesamten Flur überblicken konnte, zog es. Mit einem breiten Lederriemen schlug er zu, sein Arm ging auf und nieder, eins, zwei, auf Sophias Bauch, ihre Hände, ihr Gesicht.
»Miststück! Schlampe! Miststück! Schlampe!«
Martas Nase auf ihre nackten Knie gedrückt, die Kälte kroch von den Füßen her an ihrem Leib hoch, bis sich alles wie taub anfühlte. Die warme Spur einer Träne lief ihre Wade herunter und juckte beim Antrocknen leicht. Plötzlich war es still, Marta schaute zögernd durch den Spalt ihrer angewinkelten Beine, bis sie die Schwester da unten liegen sah wie eine Sache, die sich als unbrauchbar erwiesen hatte.
Weiter hinten entschwand Richards breiter Rücken aus ihrem Blickfeld im Halbe-Flasche-Whiskey-Schritt, ohne dass jemand ein Messer in ihn versenkt hatte.
Sophia bewegte sich endlose Sekunden nicht, öffnete dann die Augen ruckartig und schaute sie direkt an, als hätte sie die ganze Zeit gewusst, dass Marta da oben saß. Mühsam stand sie auf, klopfte ihre Hose ab und hinkte die Treppe zum Keller hinunter, ohne sich noch einmal nach Marta umzudrehen.
Am nächsten Morgen zeigte ein Mitschüler auf den roten Streifen, der über Sophias linke Wange lief: »Was hast du denn gemacht?«
»Einer wollte mich blöd anmachen«, fauchte sie, »aber der sieht schlimmer aus, also halt bloß deine Klappe!«
Marta hätte Richard totschlagen sollen, ihn von Sophia wegzerren, mit der Eisenstange sein Gesicht zermalmen! Aber sie war ein zugeschnürtes Päckchen gewesen, das sich nicht rühren konnte und beide Hände an den Mund pressen musste. Sie war gelähmt gewesen, unfähig, auch nur zu atmen. Oder feige, dachte sie, so verdammt scheißfeige. Kein Wunder, dass Sophia ihrerseits bei späteren Gelegenheiten auf Martas Verteidigung verzichtet hatte. Wessen Verrat war der erste; der, der alle weiteren bedingt hatte?
Marta schüttelt sich, wirft das zerknitterte Stück Papier mit Sophias Nummer in den nächsten Papierkorb.
Raphaela, die es bedauerte, dass Marta keinen Kontakt zu
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