An Paris hat niemand gedacht
die Waagschale? Lähmende Angst war ein fragwürdiges Argument für den Erhalt einer Absolution. Sollte eine Mutter nicht ihr eigenes Leben opfern für das ihrer Kinder? Nur dass man dafür ein Leben gehabt haben müsste, zumindest eine Ahnung davon, was das bedeuten kann: Leben.
Mit dieser Art Pathos wird sie sich auch keinen Freispruch erwirken. Sei’s drum. Inzwischen hat sie sich eine eigenständige Existenz aufgebaut, die die Bezeichnung Leben annähernd verdient, sie hat gelernt, dass sie wenigstens in ihrem Job über eine Stärke verfügen kann, von deren Existenz sie lange nichts geahnt hatte. Jetzt fühlt sie in sich die Kraft, ein eigenständiges Wesen zu sein, wenn auch nach wie vor Lücken klaffen. Nicht nur die, die Marta gerissen hat.
Beruflich erfolgreich, privat gescheitert. So sieht es aus.
Sie will nichts von dir wissen. Akzeptiere das einfach.
Es ist grotesk, wenn man darüber nachdenkt: Ihre eigene Mutter hatte nichts mit ihr anfangen können, und von ihrer Tochter wird sie aus dem Leben geworfen.
Die Frage, die sich trotz allem stellt, ist, ob das letzte Wort tatsächlich gesprochen ist. Wie aber soll sie, verdammt noch mal, zeigen, dass sie eine andere geworden ist, wenn Marta sich jeder Begegnung verschließt?
Ich will das nicht akzeptieren. Schon gar nicht »einfach«.
Möglicherweise wird ihr nichts anderes übrig bleiben.
»Ist Ihnen schlecht?«
Eine Frau vom Reinigungspersonal hat ihren Putzwagen abgestellt und schaut besorgt auf Greta, die sich rasch erhebt.
»Alles in Ordnung, ich bin nur etwas müde.«
»Jetlag, ja?«
»So ähnlich. Geht wieder vorbei. Danke. Auf Wiedersehen!«
Ich muss hier raus, denkt sie und dass sie sich solche Auftritte in der Öffentlichkeit nicht leisten kann. Vielleicht braucht sie Urlaub, ist schlicht überarbeitet. Bei der Anzahl von Stunden, die sie täglich zu bewältigen hat, wäre das kein Wunder. Andererseits: sich irgendwo hinzusetzen und Zeit zum Nachdenken zu haben wäre jetzt das Letzte. Da würde sie erst recht hysterisch werden. Es ist sinnvoller, zu der ihr eigenen Form zurückzukehren und das darzustellen, was sie wirklich gut kann: Greta Wördehoff, eine der unverzichtbaren Mitarbeiterinnen des ehrwürdigen Handelshauses Seebacher, das seit über vierzig Jahren im internationalen Reisemarkt agiert; unangefochtene Bereichsleiterin und Chefeinkäuferin für die Airport-Shops der renommierten Modefirma Ernest Calva, fast schon legendäre Ideengeberin des überaus gewinnbringenden »True«-Labels und so weiter.
Ob Marta davon weiß?
Es war eine Menge glücklicher Zufälle nötig gewesen, um sie dahin zu bringen, wo sie heute steht. Eine plötzlich aufkeimende Mischung aus Mut und Größenwahn, von der sie bis heute nicht genau weiß, woher sie die genommen hat, hatte ihr Übriges getan. Und die schlichte Tatsache, dass es für sie nichts mehr zu verlieren gab.
Da waren nur noch der sichere Untergang oder der unsichere Sprung über die Klippe gewesen. Greta war gesprungen. Reichlich spät, aber besser als nie.
Ihr Berufsleben begann im Alter von fünfundvierzig Jahren, an jenem Montag nach dem Wochenende, an dem sie aus dem gemeinsamen Schlafzimmer ausgezogen war.
Katharina war am Freitagmorgen mit ihrem Volleyballclub zu einer Sportfreizeit aufgebrochen und wurde erst in zwei Wochen zurückerwartet. An diesem Freitag jährte sich Sophias Auszug zum vierten Mal. Während Greta sich daranmachte, wie üblich die von Richard und Katharina hinterlassene Unordnung zu beseitigen, dachte sie daran, wie ihre älteste Tochter an jenem Tag, dem Morgen nach ihrer Abiturfeier, mit zwei Reisetaschen beim Frühstück erschienen war und verkündet hatte, sie werde nach den Sommerferien in München Literaturwissenschaften studieren und ziehe hiermit aus. Sie hatte sich ohne das Wissen ihrer Eltern Job, Mitwohngelegenheit und Studienplatz besorgt, wollte die Zeit bis zum Semesterbeginn nutzen, um sich in München einzuleben. Sophia hatte ihren Vater nach dieser Information erwartungsvoll angeschaut, doch Richard hatte nur mit den Achseln gezuckt. Seit Martas Flucht hatte er Sophia mit an Verachtung grenzender Gleichgültigkeit behandelt, aber niemals mehr die Hand gegen sie erhoben, worüber Greta so erleichtert gewesen war, dass sie nicht gewagt hatte, nach der Ursache zu forschen.
Greta begann gerade den Teppich zu saugen, als ihr wieder einfiel, was Sophia damals zu ihr gesagt hatte, als sie sie am Gartentor eingeholt und gefragt hatte, ob es
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