An Paris hat niemand gedacht
selbst, sein Leben, ändern. Auslöschen konnte man nichts. Die Uhr ließ sich nicht zurückdrehen, die Möglichkeit, noch einmal frei von der Vergangenheit über »Los« zu gehen, gab einem keiner. Leider. Oder glücklicherweise.
Der Punkt, an dem sie jetzt stand, war gar nicht so schlecht. Perfekt, wenn man es von außen betrachtete. Es gab viele, die sie um ihre heutige Position beneideten. Sophia sprach manchmal von »Mutters kometenhaftem Aufstieg« und fügte hinzu: »Das soll ihr mal jemand nachmachen.« Greta liebte es, die Anerkennung in den Worten ihrer ältesten Tochter zu hören, saugte sie heimlich auf wie ausgetrocknetes Brot, während sie eine abwertende Handbewegung in Sophias Richtung machte. »Ich habe eben Glück gehabt.«
Aber natürlich war es nicht nur Glück gewesen, das wusste sie
selbst. Sie hatte ihre Chance ergriffen, hatte das Ruder herumreißen und Fahrt in eine neue Welt aufnehmen können. Sie hatte der Macht dieses Mannes zu widerstehen gelernt, mit fünfundvierzig Jahren noch einmal ganz von vorne angefangen und sich ebenso stetig wie von ihr selbst unerwartet nach oben gearbeitet. Und er war nicht in der Lage gewesen, sie daran zu hindern! Seine Nachstellungen, seine Drohungen, seine Beleidigungen, die Angst vor ihm: nichts von dem hatte sie aufzuhalten vermocht, nachdem sie einmal aufgebrochen war. Sie hatte es geschafft. Jetzt war sie jemand. Sie konnte stolz sein auf den Weg. Sie war ihn aus eigener Kraft gegangen.
Einen Weg ohne Marta. Dafür war es zu spät gewesen.
Ein Kind durch den Tod zu verlieren, das sei das Schlimmste, hatte sie einmal in einem traurigen Buch gelesen. Ein Kind durch das Leben verloren zu haben reichte ihr schon. Selbst schuld, denkt sie, es ist meine eigene Schuld. Sie hatte das nicht gewollt! Wollte es jetzt nicht mehr. Nicht so.
Die Sehnsucht lässt sich weder durch Einsicht noch durch Vernunft abstellen, nagt sich stets aufs Neue in die Glieder, lähmt Muskeln und Sehnen, klemmt sich regelmäßig wie ein Alp auf die Brust. Etwas fehlt. Als sie die junge Frau in der Tür gesehen hatte und feststellen musste, dass sie eine Fremde verfolgt hatte, war ihr das plötzlich so klar gewesen wie schon lange nicht mehr. Marta. Nur einen Blick auf sie werfen, sie kurz sehen, den Klang ihrer Stimme hören.
»Lass es gut sein, da gibt es nichts zu kitten«, hatte Katharina gesagt.
Was heißt gut sein lassen? Nichts war gut.
Marta ist fortgegangen und fortgeblieben. Sie muss die Erinnerung an sie, Greta, verlegt haben, wie einen lästigen Gegenstand. Hat sie auch nur einen Moment darüber nachgedacht,
in all den Jahren, wie sich das anfühlen mag? Für ihre Mutter?
Ich bin zurückgeblieben, denkt Greta, sie hat mich fallen gelassen. Marta interessiert sich nicht dafür, wer oder was ich inzwischen bin, gibt mir noch immer keine Chance. Ich habe ihr das Leben geschenkt.
Soll sie doch mal selbst ein Kind gebären, allein und in Angst. Ein Kind, das den Tod der eigenen Mutter in verschiedensten Variationen besingt, das sie anschaut, als sei sie eine zufällig auftauchende Unbekannte, eine Störung, die man sich lieber vom Leib hält.
Spüren soll sie, wie es ist, mit einem Mann zu leben, der kurz seine Eitelkeit an ihr befriedigt und ihr dann das Rückgrat in kleine Stücke bricht. Nein!
Greta lässt den Kopf nach hinten sinken, knöpft ihr Jackett auf. Mit solchen Gedanken ist sie nicht besser als das, wofür Marta sie hält. Marta soll es gut gehen. Sie hat das Recht, ihre Mutter dazu nicht zu benötigen, sie braucht nichts zu verstehen.
Wenn sie ihr nur dies mitteilen könnte: dass sie sie beschützen wollte, dass sie damals nicht wusste, woher die Kraft dazu nehmen, dass sie heute ein anderer Mensch ist, dass es ihr leidtut.
Hörst du, Tochter, es lässt mich leiden!
Der Überfall auf dem Dorfplatz in Winnerod hätte nicht passieren dürfen, das wusste Greta. Dennoch: wäre sie nicht dabei gewesen, Richard hätte Marta womöglich totgeschlagen. Martas Schrei. Sie hatte ihr nicht helfen können, obwohl sie es wollte.
Ihr Versagen als Mutter ließ sich in diesem einen Moment zusammenfassen: Ein Hilfeschrei, von dem die Tochter annehmen muss, dass er ins Leere ging.
Sie hätte Marta vorher warnen können: Bleib weg, Kind, er weiß Ort und Zeitpunkt, an dem er dich kriegen kann!
Richard hätte seine verräterische Frau dafür geprügelt und es an anderer Stelle wieder versucht, ohne ihr Wissen.
Selbstschutz, Hilflosigkeit, Feigheit, wohin senkt sich
Weitere Kostenlose Bücher