An Paris hat niemand gedacht
passieren.
Greta fragt sich, warum die Information, dass Katharina Marta getroffen hatte, sie diesmal so aufwühlt. Beinahe mehr als an dem Tag, an dem sie zum ersten Mal von diesen gelegentlichen Treffen erfuhr.
Der letzte Versuch ihrerseits, Kontakt mit Marta aufzunehmen, war Jahre her. Damals bekam sie die Schriftstellerin ans Telefon, bei der Marta zu dieser Zeit lebte, und musste sich von ihr anhören, sie sei lediglich bereit, Marta die Tatsache mitzuteilen, dass ihre Mutter angerufen habe, sonst nichts. Sie könne keine Vermittlerrolle übernehmen, sagte Raphaela Buchheim knapp. Marta sei verunsichert genug und müsse wenigstens einen Menschen auf ihrer Seite wissen, nach allem, was geschehen sei. Das wolle sie nicht gefährden, Greta möge das bitte verstehen. Greta schluckte und legte auf. Sie hätte wenigstens bitten können, ihre Nummer hinterlassen zu dürfen, dachte sie später, aber das wäre vermutlich ebenso vergeblich gewesen wie die Frage, ob ein gemeinsames Treffen denkbar sei.
In der Folgezeit entwarf Greta mehrere Briefe, von denen keiner je abgeschickt wurde. Sie vergriff sich im Ton, stolperte über Kaskaden von Wörtern und Formulierungen, verhaspelte sich in Aussagen, die zu hart, zu weich, zu distanziert, zu sentimental,
zu ungelenk und in jedem Fall falsch waren. Sie suchte nach dem einen erlösenden Satz, von dem sie wusste, dass sie ihn nicht finden würde.
Etwa zwei Jahre nach dem Anruf fiel ihr in einer Buchhandlung der neue Roman von Raphaela Buchheim in die Hand.
»Das letzte Werk, soeben posthum erschienen«, murmelte die Buchhändlerin feierlich, und Greta erschrak.
Zuhause schlug sie das Buch auf und entdeckte die Widmung:
Für Marta, Freundin und Tochter auf Zeit,
mit Dank für die vergangenen Jahre.
Katharina hatte sie weinend am Küchentisch sitzend gefunden, mit beiden Händen auf dem aufgeschlagenen Buch. Irritiert ob des überraschenden Anblicks war Katharina stumm neben der Mutter stehen geblieben, bis sie die Situation zu verstehen begann und das Mitgefühl aus ihrem Gesicht schwand.
»Mach dir um Marta keine Gedanken, der geht es gut«, blaffte sie unwirsch, und Greta brauchte einen Moment, um zu realisieren, dass ihre Jüngste Kontakt zu ihrer Schwester aufgenommen haben musste. An diese Möglichkeit hatte sie vorher nie gedacht.
»Internet«, meinte Katharina, »war gar nicht so schwer. Sobald ich den Namen des Fotografen herausgefunden hatte, mit dem sie zusammen ist, kam ich problemlos an Martas Nummer.« Gretas Fragen waren ihr spürbar unangenehm. »Ich habe versprochen, dich aus dem Spiel zu lassen«, sagte sie und war an diesem Abend zu keinen weiteren Informationen bereit. Später ließ sie das eine oder andere dann doch durchsickern, merklich stolz, im Besitz exklusiver Informationen über die verschollene Schwester zu sein. Eigenartig, dass ausgerechnet Katharina nun das einzige Bindeglied war.
»Freundin und Tochter« stand in der Widmung. Marta hatte Ersatz gefunden, und Greta sagte sich unzählige Male, dass sie darüber erleichtert sein müsste. Erst später fiel ihr auf, dass in den Worten der alten Schriftstellerin etwas von Abschied durchklang, eine Andeutung von Verlassenwerden, die Gretas eigene Enttäuschung aufzuweichen begann.
Sie hat dieses Buch dann so oft gelesen, bis sich einzelne Seiten herauslösten, ist auf Spurensuche gegangen, den Figuren und Erzählsträngen nach, hat den Text studiert wie einen Code, der ihr den Zugang zu all dem, was sie wissen wollte, verschaffen könnte. Aber die Autorin war in der Verschlüsselung ihrer Protagonisten gründlich, ließ auch diesmal nicht zu, dass Greta durch sie näher an Marta herankam. Trotzdem begann Greta mit der Zeit, dieser Erzählerin, die so berührend und gleichzeitig distanziert schrieb, beinahe gegen ihren Willen Sympathie entgegenzubringen. Auch die Schriftstellerin muss eine Frau gewesen sein, die sich gut verstecken konnte hinter der Inszenierung, dachte Greta und bedauerte, nicht früher versucht zu haben, mit Raphaela Buchheim zu sprechen, sie kennen zu lernen, bevor das auf dem Dorfplatz passiert war. Möglicherweise wäre diese Frau, die ihre Romanfiguren durch Abgründe von Schuld und Verzweiflung wandern ließ, ohne dass sie dies auch nur andeutungsweise bewerten zu wollen schien, in der Lage gewesen, sie zu verstehen, wenigstens in Ansätzen. Vielleicht hätten sie sogar versuchen können, gemeinsam für Marta da zu sein. Aber auch dafür war es zu spät gewesen. Nach
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