An Paris hat niemand gedacht
Ältesten dankbar übers Haar.
Was genau es war, das die beiden Mädchen auseinandergebracht hatte, wusste Greta nicht. Das zu ergründen war von ihr versäumt worden, wie so vieles. Sie entfernten sich zusehends voneinander, ohne dass von Streit etwas zu merken war. Womöglich war Greta zu dieser Zeit allzu sehr damit beschäftigt gewesen, sich um die Gesundheit der kleinen Katharina zu sorgen, dieses zarten, kränklichen Kindes, das ihrer Fürsorge so sehr bedurfte, das lange in ihrem Bett schlief und durch seine Anwesenheit Richard daran hinderte, über sie herzufallen. Nach zwei vorangegangenen Fehlgeburten war dieses dritte Kind ihr wie ein Zeichen vorgekommen, obwohl oder gerade weil es in Richards Augen wieder »nur weiblichen Geschlechts« war. Katharina gehörte die ersten Lebensjahre ihr allein, bedankte sich für die Zuwendung der Mutter mit ausschließlich ihr zugedachtem zahnlosen Lächeln, in dem Greta eine Zeit lang alles Schöne dieser Welt sah. Dieses Baby machte es ihr leicht, es zu lieben! Sie hätte sich trotzdem mehr um Marta kümmern müssen, doch die hatte sich nach ihrer endgültigen Abreise aus Bouaké in eine eigene kleine Welt zurückgezogen, zu der sie keinem Menschen Zutritt gewährte. Marta schien nichts und niemanden zu brauchen. Selbst die deutsche Sprache verweigerte sie anfangs, schwieg
hartnäckig, wenn sie jemand etwas fragte, und verbrachte ihre Freizeit damit, Leoparden, Affenbrotbäume, Spinnen und weitere Figuren aus den Baoulé-Geschichten zu zeichnen, die ihre Mutter nicht mehr mit ihr teilen wollte.
Ein ivorischer Arzt, mit dem Greta sich auf einer Abendeinladung bei Kollegen Richards in Abidjan lange unterhalten hatte, gab ihr das schmale Buch beim Abschied. »Das ist für Sie«, stand handschriftlich auf der Titelseite, »Sagen, Sprichwörter, Fabeln und Rätsel meines Volkes. Man hat erst dann in einem Land gelebt, wenn man einige seiner Geschichten kennt.«
Greta begann, den Mädchen daraus vorzulesen, und sie mochten eine Zeit lang nichts anderes hören, besonders Marta verlangte immer wieder nach den Mythen und Tiergeschichten. Greta fühlte sich Marta nie so nahe wie in diesen Momenten, wenn die Kleine mit angezogenen Knien auf dem Bett saß und gebannt an ihren Lippen hing, während Königin Aura Poku mit ihrem Volk durch den Comoe zog oder die Spinne der Eidechse ihre Schulden mit einem Loch bezahlte. Wie fröhlich sie gelacht hatte, wenn am Ende die Eidechse mit dem Spinnenloch vorliebnehmen musste, um nicht vom Adler gefressen zu werden. Die Spinne war so ihre Schulden für den Yams losgeworden, und Marta klatschte begeistert in die kleinen Hände ob der erfolgreichen List. Die geröteten Wangen des Kindes, das manchmal laut loskicherte, als sei alles um es herum in bester Ordnung. Sie schien dann ein normales, unbekümmertes Mädchen zu sein, dem seine Mutter eine Gute-Nacht-Geschichte vorliest, wie es in unzähligen friedvollen Kinderzimmern dieser Welt geschieht.
Greta erinnert sich beinahe wörtlich an die letzte Geschichte, die sie vorgelesen hat, bevor dieses Abendritual sein jähes Ende nahm. Sie hört noch die Stimme Martas, die die letzten Worte mit weit aufgerissenen Augen mitflüsterte: »Denn niemandem
ist es gelungen, den Weg der Mondreise zu finden.« Wie sehr die Kleine an diesem Abend um eine weitere Geschichte gebettelt hatte: »Nur noch eine ganz kurze, eine von den Tieren!«
»Nein, Schluss für heute«, war Gretas Antwort gewesen, »morgen lese ich von den Tieren, du darfst dann wünschen, welche.«
Aber es gab kein Morgen für die Wunschgeschichte. Denn anschließend war Greta auf die Veranda getreten und hatte Martas Lied gehört.
Im Hinterland der Elfenbeinküste, dort, zwischen den Strömen Nzi und Bandama, wo die Savanne von Norden her wie ein breiter Keil in den südlichen Urwald stößt, liegt das Land der schwarzen Königin Aura Poku …
Greta kann noch immer weite Teile auswendig.
Als sie eine ganze Weile nach Martas Fortgehen deren Zimmer betrat und das alte Buch auf dem Tisch liegen sah, ebenso verlassen wie sie selbst, begriff sie zum ersten Mal, dass Marta nicht vorhatte zurückzukommen, dass sie sämtliche Brücken hinter sich abbrechen wollte.
Wer weiß, was geschehen wäre, denkt Greta, hätte ich damals in Bouaké weiterhin diesen Geschichten meine Stimme geliehen, hätte ich angelesen gegen mein eigenes tägliches Getötetwerden. Allzu leicht hatte sie aufgegeben. Das Chamäleon, die Spinne, der Leopard, die Hyäne
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