An Paris hat niemand gedacht
und nicht zuletzt Aura Poku selbst hätten ihre Verbündeten sein können auf dem Weg zu diesem verschlossenen Kind. Womöglich hatte sie den Schlüssel in der Hand gehalten, ohne es zu wissen, und die Geschichten, die Marta so mochte, waren ein Hinweis gewesen, den sie nicht zu deuten verstand.
Dieses Kind hatte sie ausgelöscht. Erst in seinen Liedern, später aus seinen Gedanken. Aber ich lebe noch.
Aura Poku sagte: »Otielele Osalo« – »Wenn lange Zeit vergangen ist, werde ich nicht mehr daran denken.«
Aus welchem Kapitel stammt noch dieses Zitat? Das Buch war, als Greta es später holen wollte, aus Martas verlassenem Zimmer verschwunden, und Greta hoffte so sehr, dass es nicht Richard war, der es an sich genommen hatte, sondern Sophia.
Nachdem Marta fortgegangen war, hatte Greta gewünscht, wenigstens Sophia würde Kontakt zu ihr aufnehmen können, aber keine von beiden unternahm den Versuch, auf die andere zuzugehen. Zumindest wusste Greta von nichts, und Sophia weigerte sich, die Flucht der Schwester zu kommentieren, geschweige denn, Fragen nach deren möglichem Verbleib zuzulassen, obwohl sie mindestens einmal vor allen anderen gewusst haben musste, wo Marta untergekommen war. Richard hatte die Adresse des Hauses in der Johannisstraße in Sophias Manteltasche gefunden und das »M!« richtig gedeutet.
Noch heute entzieht sich Sophia jedem Gespräch über Marta, wiegelt rasch ab, wenn ihr Name fällt, und beginnt von etwas anderem zu sprechen. Trotzdem hegt Greta nach wie vor die Hoffnung, dass auch die beiden eines Tages wieder miteinander reden würden und dass Sophia einen Weg zu ihr bahnen könnte. Sie hat Katharina neulich in einem günstigen Moment gebeten, Marta diskret Sophias Telefonnummer zukommen zu lassen. Für Marta würde es vielleicht leichter sein, Kontakt zu Sophia aufzunehmen statt mit ihrer Mutter. Katharina murmelte, sie glaube nicht, dass die ältere Schwester da mehr ausrichten könne als sie, versprach aber, daran zu denken, wenn sich die Gelegenheit ergebe. Greta hatte gestern Abend nicht mehr den Mut gefunden, Katharina zu fragen, ob sie die Nummer ausgehändigt hat.
Marta und Sophia standen einander einmal nahe, das konnte
nicht völlig ausgelöscht sein. Wenn Sophia von der Mutter erzählte, würde Marta vielleicht die Frau kennen lernen wollen, die es doch noch geschafft hatte, Richard hinter sich zu lassen, zu kämpfen, an sich zu arbeiten, ein eigenes Leben aufzubauen.
Ein heftiger Ruck lässt Greta nach vorne schnellen, der Mann neben ihr legt schützend den Arm um seinen Laptop.
»Meine Damen und Herren, wir erwarten einige Turbulenzen und bitten Sie, die Sicherheitsgurte anzulegen, die Tische hochzuklappen und Ihre Rückenlehnen gerade zu stellen.«
Greta blickt sich um und seufzt erleichtert, als sie feststellt, dass die Flugbegleiter den Service nicht einstellen. Solange das Bordpersonal sich noch nicht auf seinen Sitzen anschnallt, wird es nicht so schlimm sein, denkt sie und versucht sich wieder zu entspannen. Ihr Sitznachbar tippt unbekümmert weiter auf seiner Tastatur herum, ohne sich um die Ansage zu kümmern.
»Keine Sorge«, sagt er, als sein Blick auf Gretas um die Lehne geklammerte Hand fällt, »es passiert schon nichts.«
Sie nickt möglichst lässig und kramt nach ihrem Terminplaner und einem Kugelschreiber, um nicht weiter den Eindruck zu erwecken, in Panik zu sein. Allein mit ihren Bonusmeilen könnte sie mehrfach den Erdball umrunden, da wäre etwas mehr Gelassenheit schon angebracht, aber noch immer steigt sie in jeden Flieger mit dem Gedanken, es könnte ihr letzter Gang sein. Das zeugt nicht gerade von Souveränität, denkt sie und zeichnet mehrere Linien um das heutige Datum. Alles eine Frage des Willens und der Tarnung. Sie bemüht sich, ihren Atem auf Gleichmaß zu bringen, und studiert die Einträge des Tages:
12.10 h Landung München
13.30 h Mittagessen mit dem Shopleiter
15.00 h Showroom/Nachorder
18.00 h Calva-women Terminal 1
19.30 h Calva-men Terminal 2
ca. 21.00 Hotel (Order für Zürich, Mailingliste abarbeiten)
Ihr Flug am nächsten Tag geht erst mittags. Warum nicht Sophia anrufen und sie fragen, ob sie morgens Zeit für ein Treffen hat? Trotz Semesterferien erwähnte sie nichts von einer Urlaubsreise, die Chancen stehen gut, dass sie zuhause ist. Sie sollte ihre älteste Tochter öfter besuchen, wenn sie in München ist, denkt Greta. Dafür müsste sie morgen allerdings auf den nochmaligen Ortstermin im Men-Shop, den sie
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