An Paris hat niemand gedacht
verfügt, kann lebensbedrohlich werden. Geschieden, dachte sie, bin ich erst, wenn er tot ist.
Nach der Verhandlung bat Greta ihre Anwältin, sie bis zu ihrem Wagen zu begleiten. »Sie sind jetzt frei, Frau Wördehoff«, sagte sie ihr zum Abschied, und Greta wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Sie fuhr auf Umwegen zum Flughafen, wo sie den Rest des Tages und die halbe Nacht damit verbrachte, eine Inventur vorzubereiten, für die sie noch mehr als eine Woche Zeit gehabt hätte. Als sie weit nach Mitternacht die Sicherheitsschlösser hinter sich verriegelte, blieb sie mit dem Rücken an der Glasscheibe stehen, schaute ins Terminal, durch das vereinzelt übermüdete Reisende schlichen. Keiner von ihnen wies Ähnlichkeit mit Richard auf. Frei, dachte sie, das ist nun wirklich nicht das Wort, mit dem sich mein Zustand beschreiben lässt.
»Warum hast du ihn damals eigentlich geheiratet?«, hatte Sophia sie wenige Wochen nach der Scheidung gefragt, »hast du ihn wenigstens anfangs geliebt?« Greta hatte ausweichend geantwortet, obwohl ihr klar war, wie ungewöhnlich eine solch offene Frage von Sophias Seite war. »Ja, irgendwie schon«, hatte sie knapp geantwortet und dass sie noch viel mehr Abstand zwischen sich und die Geschichte ihrer Ehe bringen müsse, um sich ausführlichen Reflexionen darüber stellen zu können. Sophia hatte Verständnis gezeigt und nicht weiter nachgebohrt, wofür Greta dankbar war, auch wenn sie wusste, dass sie erneut eine Chance zum Gespräch mit der Tochter verpasst hatte.
Dem anderen Anteil zu geben an sich selbst, das war in dieser verdammten Familie etwas, das keiner von ihnen konnte. Eine Ansammlung von Einzelkämpfern waren sie, jeder hatte genug damit zu tun, sich selbst durchzubringen.
Warum sie Richard geheiratet hatte? Als ob sie sich die Frage nicht selbst unzählige Male gestellt hätte. Weil sie so schnell wie möglich ihrem Elternhaus entfliehen wollte, weil sie geschmeichelt
war, sich für die Dauer eines Sommers begehrt fühlte von einem Mann, um den ihre Freundinnen sie beneideten, weil sie all das mit der Aussicht auf Liebe und Glück verwechselt hatte? Das wären kaum Antworten gewesen, die Sophia eine zufriedenstellende Erklärung gegeben hätten.
Sophia ist ihr und Richards erstes Kind; sie soll wenigstens an die Möglichkeit denken können, dass sie, trotz allem, was später geschehen ist, einer Liebesnacht ihr Dasein verdankt und nicht einem tragischen Missverständnis. Das ist das Mindeste, was sie ihr geben kann.
Wie das mit der Liebe gewesen war, zwischen ihr und Richard? Sie weiß es nicht mehr. Womöglich gab es da irgendwann mal etwas, verborgen unter einem Berg von Schutt, Scherben und Versagen, an das sie sich einfach nicht mehr erinnern kann. Oder will. Wie auch immer. Es ist vorbei. Sinnlos, dieses Geröll auseinanderzusortieren.
Aber es hat ihn gegeben: den Tag, an dem sie sich nichts sehnlicher wünschte, als Richard Wördehoffs Ehefrau zu sein.
Wie schön er gewesen war, als er das erste Mal vor ihr stand. Dichtes blondes Haar wellte sich um die klaren Konturen seines markanten Gesichts, aus dem zwei stahlblaue Augen beinahe beängstigend scharf auf sie herunterblickten. Ist es möglich, dass ein Mann im Laufe seines Lebens derart an Körpergröße verliert, oder war etwas mit ihrer Wahrnehmung nicht in Ordnung? So respektvoll war er zu ihr gewesen, der kleinen Studentin, die geschmeichelt zu dem Dozenten aufsah. Und er schenkte ihr seine Aufmerksamkeit, ihr allein, wie es schien. Die meisten ihrer Kommilitoninnen waren in diesen Mann verschossen, sobald er das erste Mal seine Aktentasche auf das Vortragspult gestellt hatte. Sie lauschten andächtig seinen Worten und bestürmten ihn nach jeder Vorlesung mit Fragen. Man munkelte, ihm stehe eine
glänzende Karriere an der Universität bevor, aus der Gastdozentur könne bald eine Professur werden. Gerüchte gingen um, ein Ruf in die USA sei nicht unwahrscheinlich. Aber sie, Greta, war die einzige der Studentinnen, die er nach der kleinen Feier zum Semesterabschluss persönlich ansprach. Ob sie nachher noch gemeinsam etwas trinken gingen, fragte er, und Greta antwortete, sie müsse vor Mitternacht zuhause sein. Richard Wördehoff versicherte ihr, dafür zu sorgen, dass sie pünktlich sein werde, und alle konnten sehen, wie Greta in seinen Wagen einstieg.
Sie kehrte nach den Semesterferien nicht an die Universität zurück. Die massiven Bedenken ihres Vaters betrafen nicht nur den großen
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