An Paris hat niemand gedacht
stößt Greta die Tür auf, befördert mit einem Tritt den Koffer ins Innere, rafft, nachdem sie den tropfenden Becher um die Ecke geschoben hat, die Post zusammen. Kontoauszüge, mehrere Werbebroschüren, ein Schreiben von der Versicherung, ein Brief von Calva persönlich, Rechnungen, ein größerer wattierter Umschlag, der Sophias Absender trägt.
In den Räumen: abgestandene Luft und funktionale Leere. »Hier sieht’s immer aus, als wärst du gestorben«, war eine von
Katharinas weniger taktvollen Bemerkungen gewesen. Vielleicht sollte sie sich einen flauschigen Teppich kaufen, denkt Greta, oder Kunstdrucke über die kahlen Wände verteilen, Bücher anschaffen, die Besuchern den Eindruck vermitteln könnten, hier würde ein Leben stattfinden. Es ist ein Basislager, nur für gelegentliche Zwischenlandungen genutzt, freie Ankunft und Abflug bleiben dank fehlender Ansammlung überflüssiger Sachen gewährt. Allein der Kleiderschrank könnte etwas über die Bewohnerin erzählen. Greta mag ihre Wohnung, so wie sie ist.
Sie streift die Schuhe von den Füßen, zieht den braunen Umschlag aus dem Poststapel und reißt ihn auf. Ein kleines Buch kommt ihr entgegen, an den Ecken abgestoßen, die Seiten vom vielen Blättern ausgefranst, der Schutzumschlag eingerissen und mürbe. Sophia hat eine formlose Notiz hineingelegt, Make the most of now in Tomatenrot hat irgendein findiger Werbetexter am Kopf des Blatts hinterlassen. Darunter Sophias kaum leserliche Handschrift:
Dies hatte ich für dich aufgehoben – vielleicht hilft’s – würde mich freuen. Liebe Grüße! S.
Greta schlägt das Büchlein auf, steckt kurz ihre Nase zwischen die Seiten, zieht die Luft ein, liest.
Die Spinne nahm eines Tages eine Kalebasse, sagte das Wort »Wahrheit« hinein, hängte sie auf den Rücken und machte sich auf den Weg – irgendwohin.
Sie weiß, wie die Fabel weitergeht: Die Spinne glaubt, die Wahrheit nun mit sich herumzutragen und fortan stets das Richtige zu wissen. Das erweist sich als Irrtum: die Kalebasse wird im Zorn auf einem Stein zerschmettert, die Spinne muss sich den Spott der anderen Tiere gefallen lassen.
Greta lächelt.
»Dort«, flüstert sie, »zwischen den Strömen Nzi und Bandama,
wo die Savanne von Norden her wie ein breiter Keil in den südlichen Urwald stößt, liegt das Land der schwarzen Königin Aura Poku …«
Sie klappt das Buch zu und geht zur Küchenzeile, die so unbenutzt aussieht wie am Tag ihres Einbaus. Im Kühlschrank findet sie eine Flasche Grauburgunder. Greta schenkt sich ein, trinkt hastig, denkt, dass sie etwas essen sollte, und füllt das Glas ein weiteres Mal.
Der Zustand totaler Erschöpfung, der über sie fiel, als ihre Tochter im Rückspiegel des Taxis immer kleiner wurde, lähmt ihr noch immer die Glieder. Da muss kein Zusammenhang sein, denkt sie, vermutlich bin ich krank oder überarbeitet oder beides.
Greta schiebt eine CD in die Stereoanlage, beginnt den Koffer auszupacken, lässt sich ein Bad ein.
Sie war auf dem Flug von München nach Düsseldorf wie betäubt gewesen, hatte dieses dumpfe Pochen in den Schläfen gespürt und beschlossen, dies für Symptome einer beginnenden Erkältung zu halten, die sie gewöhnlich mit einer gehörigen Ladung GRIPPOSTAD in Schach hält oder schlicht ignoriert.
Hektik und Pannen bei der Generalprobe für den Catwalk hatten sie ebenso wenig berührt wie der hysterische Anfall der zukünftigen Shopleiterin, die der Überzeugung gewesen war, nichts würde so funktionieren, wie sie sich das für die Eröffnungsfeier vorgestellt hatte. Greta, die die Feierlichkeiten im Vorfeld wie immer akribisch geplant hatte, stand merkwürdig unbeteiligt im Getümmel, vergaß, beruhigende Worte zu sprechen, zuckte nur mit den Schultern und verabschiedete sich von den verblüfften Mitarbeitern mit den Worten, sie müsse noch etwas schlafen, es werde am kommenden Tag schon alles gut gehen.
So war es dann auch, selbst wenn sie keinen nennenswerten Anteil daran hatte. Seebacher junior hielt beim Sektempfang eine Rede, der artig applaudiert wurde, der zuständige Supervisor versuchte witzig zu sein.
Greta war es mit Mühe gelungen, das Gähnen zu unterdrücken. Irgendwie hatte sie dann ihre eigene Ansprache, die wie immer so knapp und pointiert wie möglich konzipiert war, hinter sich gebracht und warf anschließend während des gesamten Defilees keinen Blick auf die im »klassisch-natürlichen Laufstil« an ihr vorbei präsentierte Kollektion.
Seebacher hatte
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