An und für dich
jetzt sehen könnte, würde er das wahrscheinlich nicht mehr denken.
Sie zog die Samtvorhänge zu und stellte sich vor den Spiegel. Die Haare fielen ihr mittlerweile in Büscheln aus und die Wimpern auch. Ohne sie hatten ihre hübschen blauen Augen rote Ränder und sahen aus wie Hasenaugen. Dass sie abgenommen hatte, sah man ihrem Gesicht am deutlichsten an, ihre Haut wirkte, als wäre sie eine Nummer zu groß für ihre Knochen. Beide Mundwinkel waren entzündet.
Seit der Operation hatte sie jeden Blick auf ihre Narbe vermieden. Jetzt machte sie ihren Morgenmantel auf. Ihre Brust war empfindlich, und ihr Arm fühlte sich in der Nähe der Achselhöhle immer noch taub an, aber der physische Schmerz war nichts im Vergleich zu dem Schock, den sie beim Anblick ihres Körpers empfand. Sie hatte sich immer davor gefürchtet, ihre Schönheit nach und nach an das Alter zu verlieren. Stattdessen war sie ihr nun plötzlich und auf grausame Weise entrissen worden.
Wo einmal ihre linke Brust gewesen war, spannte sich die Haut nun straff über den Rippen, zusammengeheftet von einer dicken, violetten Narbe. Als hätte Mr. Kenny mit Filzstift eine zittrige rote Linie gezogen zwischen der Jill von früher und der, die sie von jetzt an sein würde.
Sie zog den Bademantel wieder über, öffnete den Kleiderschrank und zerrte die Sachen heraus, die sie nicht mehr tragen würde. Eine hauchdünne Baumwollbluse. Einen schulterfreien Pullover. Ein ärmelloses Oberteil. Mehrere Wickelkleider. Was eng anliegend oder tief ausgeschnitten war, landete auf dem Haufen, und das war fast alles, was sie besaß.
Dann nahm sie sich die Kommode vor, T-Shirts, Unterwäsche, Badeanzüge, Nachthemden. Die Vorstellung, dass die Frau im Spiegel ihren gepunkteten Neckholder-Bikini oder den rosa Satinbody tragen würde, war lächerlich. Sie stopfte alles in schwarze Mülltüten.
Hinterher war sie verschwitzt und außer Atem. In ihrer linken Achselhöhle, aus der Mr. Kenny die Lymphknoten entfernt hatte, pochte es heiß, aber sie war wütend genug, um endlich hinter sich zu bringen, was sie so lange vor sich hergeschoben hatte.
Sie ging in den Flur und zog die Dachbodenleiter herunter. Sie holte eine Taschenlampe und schleppte sich Sprosse für Sprosse hinauf. Oben verschnaufte sie kurz und kramte dann zwischen Kartons und Tüten, bis sie fand, wonach sie gesucht hatte. Sie zerrte den schweren braunen Koffer zur Dachbodenluke zurück und kletterte mit ihm auf der Schulter die Leiter langsam wieder hinunter. Er war zu schwer und glitt ihr weg. Eine der metallbeschlagenen Ecken blieb an ihrem Bademantel hängen, riss ihn auf und hinterließ einen tiefen Kratzer auf ihrer Schulter. Mit einem dumpfen Knall landete der Koffer auf dem Boden und sprang auf. Alte Papiere und Fotos flogen heraus und die Treppe hinunter.
»Sieht überhaupt nicht aus wie ein Schwein.« Luke betrachtete skeptisch die verknoteten Ballons.
»Wenn du dir vorstellst , dass es ein Schwein ist, dann ist es auch eins!« Der Ballonmann setzte ein Lächeln auf, das seine Clownsschminke in Falten legte, aber seine Augen lächelten nicht.
»Wenn ich mir vorstelle, dass du ein Schwein bist, bist du dann auch eins?«, fragte Lizzie.
Jess schob die Zwillinge weiter, bevor es unangenehm wurde. Sie war immer gern auf das World Music Festival gegangen. Seit der Geburt der Zwillinge waren sie jedes Jahr in den Park in Dun Laoghaire gekommen. Irgendwo in einem Karton oder – angesichts der typischen Unordnung auf ihrem Dachboden – vielleicht auch in einer eingestaubten Auflaufform, in dem eine einzelne Fahrradklammer und eine leere Batterie herumkullerten, mussten noch Fotos von Luke und Lizzie in ihren Tragetüchern sein, dann im Zwillingsbuggy, dann als pummelige Kleinkinder, wie sie zu den Klängen mexikanischer Mariachis oder japanischer Trommler tanzten.
Dieses Jahr wollte aber einfach keine Stimmung aufkommen. Die Zwillinge benahmen sich daneben. Der Himmel war bedeckt, es war schwül, und von dem musikalischen Durcheinander, das aus allen Ecken des Parks kam, bekam sie Kopfschmerzen. Conor kaufte gerade Pommes. Sie sah ihn in der Ferne anstehen. Er sah gelangweilt und schlecht gelaunt aus, und obwohl es ihr genauso ging, nahm sie es ihm übel.
Sie versuchte, das Programmheft zu lesen, und wünschte sich zum ersten Mal in ihrem Leben eine Sonnenbrille.
15:15 Uhr. Ultarak Stevens verübt einen Anschlag auf Ihr Trommelfell mit seiner irren Mischung aus Ninja-Surf und traditioneller
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