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Analog 06

Analog 06

Titel: Analog 06 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Joachim Alpers , Hans Joachim (Hrsg.) Alpers
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du gegen mich vorbringst. Doch am Ruin deines persönlichen Lebens bin ich unschuldig, Kleines. Das mußt du selbst zugeben, wenn du dein Leben als ruiniert betrachtest.“
    Das war richtig. Sie mußte es zugeben – wenn nicht Ös gegenüber, so doch sich selbst gegenüber. Die Entdeckung aller Veränderungen, die während ihrer Abwesenheit – ihrer geistigen Abwesenheit – stattgefunden hatten, war ein großer Schock gewesen, doch die Wirkung dieses Schocks ließ nun langsam nach. Sie vermißte die Wege ihrer Kindheit, doch niemand konnte auf Dauer ein Junges, im Gewahrsam eines brutschützenden Geschlechtslosen bleiben. Wie sehr kümmerte es sie wirklich, was jene barbarischen Pilger in ihrer Freizeit in der Stadt Gottes taten oder wo sie es taten? Und was Rotfüßigen Er anbetraf – in seinem jetzigen Zustand hatten sie einander sowieso nichts zu sagen.
    Was schließlich Langfühler anbelangte, so hatte sie ihn ebensosehr geliebt wie jeder andere Er oder Sie ihre Brutschützer. Und außerdem war ein Geschlechtsloser ja eben nur ein Geschlechtsloser.
    Würde sie wirklich zu jenen Nächten zurückkehren, als sie lediglich eine Novizin im Chor war, wenn sie es könnte?
    Nein. Bei näherer Betrachtung wollte sie lieber weiterhin Lichtopern mit Himmelssänger erzählen.
    „… Gut“, sagte Himmelssänger einige Stunden später, nachdem sie über alles gesprochen und ihre Abmachung erneuert hatten. „Wir beide stehen eben erst am Anfang unserer gemeinsamen Arbeit, Grünauge. Ich werde deinem Rat folgen und eingehender über die Konsequenzen meiner Wünsche nachdenken. Doch du, Wink, und auch dein Volk – ihr werdet euch an die gelegentlich eintretenden Veränderungen gewöhnen müssen. Ich hoffe, du hast die Priester nicht zu sehr brüskiert, denn ich habe einige kleine Vorschläge zu machen, die sie baldmöglichst in die Tat umsetzen sollen. Ich habe nachgedacht und bin zu dem Ergebnis gekommen, daß wir am anderen Ende des Sees einen Hafen gebrauchen könnten. Das kann gar nicht früh genug geschehen. Ja, ich weiß, du hast keine Ahnung, was ein Hafen ist. Das werde ich dir erklären, wenn ich dir die Pläne für eure Handwerker und Baumeister gebe. Und wenn die Priesterschaft sich wieder beruhigt hat – könntest du sie dann nicht davon überzeugen, eine Botenstaffel aufzustellen? Was das ist? Nun, das ist eine Möglichkeit, wie die Menschen in der Stadt Gottes rasch von Ereignissen erfahren können, die sich in den fernsten Einflußbereichen deines Stammes zutragen. Verstehst du das? Und noch etwas, Wink – kannst du die Priester nicht dazu bringen, für ein besseres Ausbildungssystem zu sorgen? Ich habe darüber nachgedacht, und mir scheint …“
    Und so schimmerten und flackerten sie weiter aufeinander ein, sie funkelten und leuchteten, schmiedeten Pläne und unterhielten sich bis tief in die Nacht, während die Sterne über ihnen ihr geduldiges Lied sangen …
     
    Die Ruderer tauchten ihre Ruder langsam und im Rhythmus des Gesanges ein: Purpur, Grau, Blau, Weiß. Hinter dem führenden Boot folgte eine einzige große Barke mit den Priestern und Chorsängern an Bord.
    Doch die uralte, ehrfurchtgebietende Hohepriesterin war noch nicht tot, noch nicht ganz. Und doch war ihr Spektrum so klar und rein wie eh und je.
    „Gott!“ rief sie in drängendem Violett aus. „Ich bitte Dich, erscheine vor Deiner Dienerin.“
    Ein Sog unter den Wellen brachte das Boot zum Schwanken.
    „Was gibt es, Kleines?“
    „Ein außergewöhnliches Geschenk, Großmächtiger. Ein großes Opfer. Ich bin die Hohepriesterin. Ich bringe es dar.“
    „Gut. Ich könnte eine kleine Zwischenmahlzeit vertragen. Ich freue mich zu sehen, daß du dich von deiner Krankheit erholt hast, Wink, und daß du wieder am Gemeinschaftsleben teilhaben kannst. Ich habe dich vermißt.“
    „Ich habe mich nicht von meiner Krankheit erholt. Ich bin alt. Ich bin sogar uralt. Mein Augenlicht schwindet, und bald werde ich dich überhaupt nicht mehr sehen und auch nicht mehr mit dir sprechen können. Gelegentlich erspähe ich Gerüchte unter den jüngeren Dienern Gottes, die hastig unterdrückt werden, wenn ich den Raum betrete. Man munkelt offen davon, daß mein Panzer um das Gehirn herum hart geworden ist.
    Himmelssänger, alter Freund, alle Symptome weisen auf eine Tatsache hin: Die Zeit rückt unaufhaltsam näher, da ich zum Ruhme Gottes in die Heiligen Wasser gehen werde.“
    „Ich verstehe. Und warum bist du jetzt hergekommen, Kleines?“

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