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Anarchy in the UKR

Anarchy in the UKR

Titel: Anarchy in the UKR Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Serhij Zhadan
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abgehauen, die Aussicht, einen ganzen Monat auf einer Tischtennisplatte zu schlafen, fanden wir nicht so prickelnd; das ist mehr als ein Abenteuer oder eine interessante Geschichte, ein Abenteuer ist es, wenn du nachts dein Hotelzimmer aufschließt, und in deinem Bett liegen fremde Leute, stimmt, das ist ein Abenteuer, aber wenn du weder Schlüssel noch Hotel, noch fremde Leute hast, wenn du nicht den blassesten Schimmer hast, wie du die Situation, in die du geraten bist, bis zum Morgen überstehen sollst, das ist dann kein Abenteuer und auch keine interessante Geschichte, das ist dein Leben, so wie es ist – ohne Beschönigung und unnötiges Pathos, du setzt einfach den Raum mit deiner Gegenwart unter Druck und reißt dir genau so viel Platz und Wärme heraus, wie du brauchst, um in der Nacht nicht zu erfrieren; wir bogen vom Waldweg ab, liefen lange und fanden schließlich eine Lichtung, trugen Holz zusammen und machten ein Feuer. Zuerst tranken wir alles aus, was wir dabeihatten, doch das kam uns wenig vor, und wir fingen an, unser Gras hervorzukramen, sogar Weiß, Dr. phil., der die ganzen anderen Tage enthaltsam gewesen war und sich mit Selbstgebranntem aus lokaler Herstellung begnügt hatte, ließ sich hier auf einmal gehen, wurde lockerer, rauchte mit uns und fing an, von den Samurai und ihrem Ehrenkodex zu erzählen. Mitten im Ehrenkodex schlief ich ein.
    Ich erwachte gegen fünf. Ljoschka fuhr von seinem Schlafsack hoch, Weiß saß am erloschenen Feuer und blickte in den Wald, was ist da? fragte ich, da geht einer, flüsterte er, schon lange, fragte ich? ja, sagte Weiß, die ganze Nacht, gut, sagte ich, hau dich hin, ich halte Wache. Er schlief sofort ein, ich übernahm seinen Platz und fing an zu beobachten, wer da zwischen den Bäumen herumlief. Das dauerte etwa zwei Stunden.
     
    Einmal nachts saß ich bekifft am Meer und schaute auf die Wellen, ich versuchte sie zu erkennen, sah aber nur Dunkelheit, die sich dicht neben mir bewegte und mich jeden Augenblick zufällig streifen, mit ihrem Schweif umwerfen oder mit Tentakeln in ihr dunkles Inneres ziehen konnte, wenn du in der Dunkelheit nichts siehst, heißt das noch lange nicht, daß auch dich in der Dunkelheit niemand sieht, so kam es mir immer vor, denn Dunkelheit ist etwas, das außerhalb von dir existiert, du fällst immer aus ihr heraus, während derjenige, der in ihr bleibt, immer einen guten Beobachterposten hat, denn die Dunkelheit ist nur für dich Dunkelheit, für ihn ist sie etwas anderes, etwas, was du nicht sehen und also auch nicht begreifen kannst. Und jetzt, als ich an dem heruntergebrannten Feuer saß, das erkaltete, seine Wärme abgab wie eine große Pizza, überlegte ich, was in dieser Nacht um uns herumgestrichen sein konnte, ich sah solche Sachen vielleicht nur verschwommen, aber Weiß hatte geraucht und hinter den Kiefern etwas gesehen, was mochte das gewesen sein? Die Seelen der Förster? Vielleicht die Seelen der Förster, aber vielleicht auch die Seelen der Pioniere aus dem Lager nebenan, die vor langer Zeit, vor vielen Jahren aus den idyllischen Pionierzelten in den Wald geflohen waren, sich eine Zeitlang von Wurzeln und Fliegenpilzen ernährt und allmählich ihre Pioniergestalt verloren hatten und zu ruhelosen Geistern geworden waren, die Nacht für Nacht in den Wald zum Feuer kamen, sich aber nicht näher herantrauten, um nicht dem Pionierleiter zu begegnen.
     
    Alle, deren Anwesenheit du spürst, suchen unablässig deine Unterstützung, wollen, daß du mitmachst, fortwährend fängst du ihre Blicke auf, die euch verbinden. Aber wenn du auf einmal an einem fremden Ort aufwachst, einsam und durcheinander, fühlst du plötzlich ganz deutlich irgend jemandes Anwesenheit dicht neben dir, du könntest ihn niemals sehen, er aber würde auch nie an dir vorbeigehen, ich sage nur, daß ich wirklich bereit war, die Schatten zu sehen und die Stimmen von jenseits der Kiefern zu hören, ich habe sie doch nur deshalb nicht gesehen, weil ich nicht wußte, was ich denn sehen, woran ich sie erkennen soll. Im Unterschied zu mir wußten sie es genau, sie sahen mich und meine Freunde, fühlten uns, wir leuchten ihnen in ihrer Dunkelheit, ohne dazuzugehören, ohne hineingezogen zu werden, wir leuchteten mit unserem ganzen Blut, das in uns stand wie die Quecksilbersäule im Thermometer, so orteten sie uns, auf das rosa Leuchten des Blutes kamen sie hinter den Baumstämmen hervor, blieben in einigem Abstand stehen und streckten uns die Hände

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