Anarchy in the UKR
Vorstellung zieht, auf dem gespannten Seil zu gehen, unter apfelsinenfarbenen und lila Sonnen, die wir nicht einmal im Schlaf sehen können und die für sie so alltäglich und natürlich sind wie Kosmetik oder U-Bahn. Sie kehren durch die zerrissene Luft zur Gemeinde zurück, die sie erwartet, denn sie hält es nicht sehr lange aus ohne ihre Musik, ohne ihren kommunistischen Sender, der sie vereint und vom Rest der Welt trennt, sie an sich bindet und zu Auserwählten macht. Die DJs setzen die Kopfhörer auf, koppeln an den einen Klangraum an und beginnen sorgfältig – Schritt für Schritt, Minute für Minute – die Himmel über sich abzuhören, sich konzentriert in ihr Überfließen und Atmen einzuhören und die Himmelsoberfläche vorsichtig mit ihren langen, trockenen Fingern zu berühren, die nach Blut und Marihuana riechen, und mit den Händen über die Himmelsverkleidung zu fahren, die ausgebeult und fest ist wie der Bauch eines trächtigen Tieres, sich dabei den erogenen Himmelszonen immer weiter zu nähern, in deren Umgebung die Musik entsteht, die schönsten und reinsten Radiowellen, die Radiowellen, nach denen die Gemeinde so lechzt, ohne die ihre Schwestern und Brüder, ihre Kinder mit den schwarzen Tätowierungen auf den Unterarmen und ihre Eltern mit den künstlichen Herzklappen in ihren warmen und verstaubten Zimmern erstickten; sie können nicht fehlgehen auf ihrer Suche, sie suchen Musik wie unterirdische Quellen, damit die Gemeinde nicht an der Austrocknung ihrer Organismen zugrunde geht, denn die Musik macht ihre Organismen und Körper feucht und geschmeidig wie jungen Kohl, aus ihren Körpern könnte man später Musikinstrumente machen, aber wer nähme diese Instrumente zur Hand, wer könnte sie stimmen?
Äußerlich hingegen sieht das ungefähr so aus: der Radiosender fällt durch ein eigenes Format auf, nimmt Sponsoren dazu und startet eine große Werbekampagne. Nach und nach gewinnt er Stammhörer, nach und nach erkennt man ihre Moderatoren an der Stimme und lädt sie zu verschiedenen Talk-Shows ein. Immer mehr Taxifahrer und Kioskbesitzer schalten den Sender ein. Die Gemeindemitglieder ahnen nichts von den vielen anderen Hörern, mehr noch, sie denken nicht einmal daran, bezahlen jedes Jahr eine bestimmte Summe zur Erhaltung ihres Lieblingssenders, sie haben die Gesamtkonzepte nicht verinnerlicht, häufig wissen sie nicht einmal, daß ihre geliebten DJs im selben Aufgang wohnen wie sie; sie schalten einfach das Radio ein und schließen sich sofort dem trächtigen Himmelstier an, indem sie seinen nervösen Atem in ihre Wohnung einlassen und denken, daß das eben Buddy Guy sei, ganz genau, das genau ist Buddy Guy.
6. Lou Reed. Berlin.
Ich habe eine seltsame Frau kennengelernt. Irgendwo hat sie meine Mailadresse gefunden und mir geschrieben. Da standen nur ein paar Zeilen, hallo, schrieb sie, ich hab dein Buch gelesen. Ich finde Berlin auch toll. Und dann surfe ich noch gern. Seltsam, dachte ich, wo hat sie meine Adresse gefunden? Hallo, schrieb ich zurück, gehst du wirklich richtig surfen? Nein, antwortete sie, ich hab das anders gemeint, ich surfe nicht selbst, ich mag es einfach. Und was magst du? Wenn es so ist, antwortete ich, mag ich Masturbation. Für einige Tage war Funkstille.
Ist es dir schon einmal passiert, schrieb sie das nächste Mal, daß deine engsten Freunde dich plötzlich nicht mehr verstehen. Plötzlich? fragte ich nach, nein, das gab es noch nie. Was ist denn passiert? fragte ich, hast du dich mit deinen Schulfreunden gestritten? Ja, schrieb sie, habe ich. Ach, schrieb ich, das wird schon wieder, mach dir keinen Kopf. Was habt ihr denn da nicht richtig geteilt? Eure Schulbrote? Was denn für Schulbrote, schrieb sie beleidigt, ich gehe aufs College. Ihr werdet euch schon wieder vertragen, beruhigte ich sie, morgen gehst du in die Schule, ich meine ins College, und ihr vertragt euch wieder. Du hast es nicht kapiert, schrieb sie, in meiner Schule, ich meine im College, läuft alles normal und bei ihnen auch, zu Hause sind sie irgendwie komisch, reden morgens nicht, streiten andauernd. Wo denn morgens? Ich hatte es nicht geschnallt, im College? Was du nur dauernd mit dem College hast, antwortete sie, morgens ist morgens, wenn wir aufstehen und in der Küche Kaffee trinken. Moment mal, fragte ich zurück, was macht ihr – ihr trinkt Kaffee, heißt das, ihr wohnt zusammen? Ja doch, antwortete sie, ich hab dir doch geschrieben, daß es meine engsten Freunde sind. Wir
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