Anarchy in the UKR
Stellvertreter, noch einmal loszufahren. Wir versuchten lange, ihn davon abzubringen, aber er hörte nicht, setzte sich aufs Fahrrad, drehte eine Runde um das Lager und landete im Ausgrabungsfeld. Alle rannten hin, um ihn rauszuholen. Dann verzogen sich die Historiker in ihre Hütten auf ein Schlückchen Kölnischwasser, in der Nacht kam der Förster noch einmal zurück, sagte, daß die Jäger wohl nicht kämen – sie seien im Sumpf steckengeblieben –, holte noch eine Flasche raus, und ich saß lange mit ihm am leeren Tisch, in den Hütten sangen die Historiker, über dem Tisch brannte ein helles Licht, der Wald war dunkel und voller Geister, der Sommer auf seinem Höhepunkt.
Gegen Morgen ging ich mir ein Bett suchen. Es war still. Das Lager war verwüstet, allein an Trinkkompott zu denken tat schon weh. Ich ging zur nächstgelegenen Hütte und sah hinein – im Schlafsack lag Roman mit seiner Freundin. Ich stand lange am Fenster, plötzlich drehte sie sich um und sah mich aufmerksam an. Die rauhe Armeedecke fiel ihr von den Schultern, aber sie zog sie nicht hoch, sie sah mich lange und ruhig an, als sähe sie mich im Traum. In diesem Moment wünschte ich mir auch, daß sie mich im Traum sähe. Plötzlich trug der Wind ein Krachen heran, ich zuckte zusammen, der Lautsprecher explodierte förmlich, Creedence Clearwater Revival, erkannte ich sofort, das ist doch unser CCR, die Musik, die sie aus unseren Taschen gezogen hatte, es war der stellvertretende Expeditionsleiter, der verzweifelt versuchte, die Hochstimmung und Euphorie zurückzuholen, die noch vor ein paar Stunden im Lager geherrscht hatte und die ihm noch im Bewußtsein, noch in der Kehle steckte. Er war aufgewacht, in den Funkraum gegangen, hatte dort die Kassette unserer Freundin gefunden und eingelegt, in diesem Zustand hätte er auch sonst was hören können, aber das Schicksal hatte ihm eben Creedence hingeworfen, er stellte lauter und setzte sich an den langen, leeren Tisch mitten im Wald und hörte allein, als einziger im ganzen Wald, na ja, wenn man mich und die Jäger mal wegläßt, wenn sie überlebt hatten natürlich, diese wilden morgendlichen Creedence, die den Lautsprecher und unsere Köpfe zerfetzten, aber ihr Gebrüll erreichte niemanden außer ihm und mir, wie immer verbindet die Stille, hält uns zusammen, und nur von Zeit zu Zeit, zufällig, gelingt es einer wilden und heiseren männlichen Stimme, einen von uns nach draußen zu reißen, heraus aus den Kreisen, den Tod und Vergessen um uns ziehen, und nur derjenige von uns, dem es wenigstens ein einziges Mal gelingt, die Kreise zu durchbrechen und inmitten des grellen Klangs, des Schreis der tödlich Verwundeten, der schwachen und ewig mit irgendwas vollgepumpten Männer innezuhalten, eines Sommermorgens, unter taunassen Bäumen, der versteht, wie schwer das alles wiegt: seine Einsamkeit, sein überlastetes Gehör und seine unerwiderte Liebe. Ich holte die Reserveflasche Sprit Royal raus und setzte mich an den Tisch.
In der Zwischenzeit wandte sie sich vom Fenster ab, legte vorsichtig Romans Arm zur Seite und fühlte immer noch seine Wärme auf ihrer Haut, wickelte sich mit dem Kopf in die Armeedecke und versuchte einzuschlafen. Ich weiß nicht einmal, was sie geträumt hat.
5. Buddy Guy. Done Got Old.
Sie läßt mir keine Ruhe, diese Radiogeschichte. Ich kehre immer wieder zu ihr zurück. Was hat er über die Arbeit des Radiosenders gesagt? Er hat selbst jedes Jahr Geld auf das Konto überwiesen, nicht viel, vielleicht hundert, zweihundert Eier. Wie viele werden sie gewesen sein, diese Eingeweihten, die den gemeinsamen und für jedermann offenen Radiosender finanziert haben? Man kann es ungefähr ausrechnen – die Lizenz, die Miete, die Steuern, Ausgaben für Technik –, wieviel braucht man pro Jahr, um so einen Sender am Laufen zu halten, wie viele heimliche und namenlose Helden mit einem tadellosen Musikgeschmack müssen in einer Stadt leben und kapieren, daß man um den eigenen Klangraum, mehr noch, um einen eigenen Raum kämpfen, ihn feindlichen Händen, fremden Lautsprechern entreißen muß; dafür muß man was lockermachen, echte Kohle, von den eigenen Ersparnissen, sonst kauft ihn garantiert jemand anders auf, und dann verlierst du ein weiteres Stück deines Territoriums, einen weiteren Eingangskanal für Musik, Rauch und Regen. Eine solche Anonymität hat alle Merkmale einer Kirche, einer frühchristlichen Sekte, die nach kommunistischen Prinzipien funktioniert – mit
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