Anastasija 04 - Tod und ein bisschen Liebe
bitte, dich vor ihn zu stellen, ja?«
»Was ist das denn für ein Auto?«
»Das Auto eines Untersuchungsführers der Moskauer Staatsanwaltschaft. Ich übergebe ihm den Brief, sollen sich die Gutachter ein bißchen damit herumschlagen, solange ich getraut werde.«
Sascha stellte sich hinter Nastja, um ihr Gesicht wenigstens im Spiegel zu sehen und einen Blick von ihr aufzufangen.
»Nastja, ich möchte dir eine Frage stellen, die vielleicht taktlos ist, aber versprich mir, daß du mich nicht anlügen wirst. Daß du entweder ehrlich antworten wirst oder gar nicht.«
»Ich verspreche es«, murmelte sie undeutlich, während sie ihre Lippen mit einem bräunlichen Lippenstift nachzog.
»Tut es dir leid, daß du heiratest? Tut es dir jetzt, in diesem Moment, leid, daß du zum Standesamt fahren mußt, anstatt diesen verdammten Brief selbst zum Gutachter zu bringen und ihm so lange auf der Pelle zu liegen, bis du endlich das Ergebnis hast? Nicht wahr, du würdest am liebsten losrennen und alles Mögliche unternehmen, um den zu finden, der dich bedroht. Habe ich recht?«
Nastja schraubte den Lippenstift langsam zurück in die goldfarbene Hülse, sie drehte sich nicht um, sondern begann, das Gesicht ihres Halbbruders aufmerksam im Spiegel zu betrachten. Er hatte die gleichen Augen wie sie: sehr hell, durchsichtig, fast farblos. Weißblonde Augenbrauen und Wimpern, eine schmale gerade Nase, einen harten, fest umrissenen Mund. Die Halbgeschwister sahen einander verblüffend ähnlich, beide groß und hager, aber wenn Nastja einfach nur unscheinbar war, so war Sascha von einem aufrichtig unschönen Äußeren.
»Wie kommst du darauf, daß ich bedroht werde?« fragte sie argwöhnisch.
»Weil der Brief mit sehr großen Buchstaben geschrieben ist, und während du gelesen hast, konnte ich auch lesen. Wirst du mir meine Frage beantworten?«
»Nein. Geh davon aus, daß ich die Frage überhört habe.«
»Danke.«
»Wofür?«
»Daß du mich nicht angelogen hast.«
Er drehte Nastja zu sich herum und drückte ihren Kopf sanft an seine Schulter. Obwohl Nastja acht Jahre älter war als er, gelang es Sascha, sich so zu verhalten, als wäre sie seine kleine Schwester, die er beschützen und umsorgen mußte.
»Ich liebe dich, Nastjenka«, sagte er leise, während er mit seinen Lippen ihr platinfarbenes Haar berührte. »Ich danke dir für alles. Ohne dich hätte ich nie das Glück gefunden, das mir jetzt widerfahren ist. Ich hätte nicht verstanden, daß Dascha mich liebt, und ich hätte nie den Mut gefunden, mich scheiden zu lassen. Und was noch schlimmer gewesen wäre – man hätte Dascha umbringen können. Du hast sie gerettet. Ich danke dir.«
Nastja löste sich vorsichtig von ihrem Halbbruder und strich ihm sanft über die Wange.
»Sascha, jetzt ist nicht der richtige Moment für ernste Gespräche. Wir feiern heute schließlich ein Fest, verscheuche alles Tragische aus deinen Gedanken und deiner Stimme. Laß uns gehen, wir müssen los, Dascha ist bestimmt schon nervös.«
Doch Alexander bewegte sich nicht von der Stelle, er betrachtete nachdenklich Nastjas Spiegelbild.
»Was ist mit dir, Sascha? Was hast du für tiefschürfende Gedanken?«
»Nastja, du bist in Schwierigkeiten. Ich bestehe nicht darauf, daß du mir sofort alles erzählst, aber ich möchte, daß du eines weißt: Du kannst immer auf mich zählen, was auch passiert. Ich werde alles für dich tun, was ich nur kann.«
»Danke, Sascha. Ich bin gerührt. Ehrlich. Aber jetzt müssen wir wirklich gehen.«
Durch sonnenüberflutete Straßen fuhren sie nach Sokolniki, zum Standesamt, in dem Alexander Kamenskij und Dascha Sundijewa heiraten würden. Sascha und Nastja fuhren in dessen Auto voraus, Ljoscha folgte ihnen zusammen mit Dascha. Nastja hatte versucht, gegen dieses Arrangement zu protestierten, aber Dascha hatte darauf bestanden, daß Braut und Bräutigam nicht zusammen zum Standesamt fahren durften. Unterwegs hielten sie mehrmals vor Blumenständen an, und Dascha stellte sachkundig die Sträuße für sich und Nastja zusammen. Zehn vor zehn waren sie endlich vor dem Standesamt angekommen. Olschanskijs hellblauer Moskwitsch stand bereits vor dem Eingang und nahm sich höchst armselig aus neben zwei nagelneuen Saabs, einem Mercedes und einem Audi, die ebenfalls vor dem Eingang parkten.
Konstantin Michailowitsch saß unbeweglich auf dem Fahrersitz, so, als würde er gar nicht bemerken, daß Nastja aus dem neu angekommenen Wagen ausgestiegen war und auf ihn
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