Anastasija 04 - Tod und ein bisschen Liebe
daß sie immer noch völlig nüchtern war.
Sie ging ins Bad, stellte sich unter die Dusche, die sie so heiß wie möglich stellte, und begann, ihren Körper gewaltsam mit einem Bastschwamm zu bearbeiten, den sie immer wieder mit duftendem Badeöl übergoß. Endlich hatte sie das Gefühl, daß sie den widerwärtigen Geruch, der in alle Poren ihres Körpers eingedrungen zu sein schien, los war. Sie trocknete sich mit einem dicken Badetuch ab und legte sich ins Bett. Aber sie konnte nicht einschlafen. Die schrecklichen Bilder dessen, was sie heute durchlebt hatte, ließen sie nicht los.
Sie wälzte sich bis zum Abend von einer Seite auf die andere, dann stand sie wieder auf. Jetzt bemerkte sie doch die Wirkung des Alkohols. Sie wollte sich ein kleines Abendessen zubereiten, aber vom Essensgeruch wurde ihr übel. Sie setzte sich an den Küchentisch und verfiel in eine stumpfe Gefühllosigkeit, aus der sie erst ein Klingeln an der Wohnungstür riß. Vor der Tür stand Pawel.
»Guten Abend«, sagte er mit einem verlegenen Lächeln. »Entschuldigen Sie, daß ich störe. Ich wollte mich nur einmal erkundigen, wie es Ihnen geht. Als ich vorhin wegfuhr, waren Sie so bleich, daß ich mir Sorgen gemacht habe.«
Aus irgendeinem Grund freute sie sich, daß er gekommen war. Nach einem so schrecklichen Tag war das Alleinsein unerträglich. Der Gedanke, ihre Einsamkeit mit einem Leichenbestatter zu teilen, schreckte sie nicht. Er war nett, und er hatte sie mit so viel Aufmerksamkeit behandelt.
»Haben Sie schon etwas gegessen?« fragte er besorgt, nachdem er erneut ihre große, eindrucksvolle Wohnung betreten hatte.
»Ich habe es versucht«, sagte sie, »aber ich kann nicht.«
»Das geht so aber nicht. Sie müssen unbedingt etwas essen. Sie haben doch den ganzen Tag unter Streß gestanden.«
»Ich bekomme nichts hinunter.«
»Achten Sie nicht darauf«, riet Pawel fröhlich. »Schlucken Sie einfach. Und vorher müssen Sie noch ein Gläschen trinken.«
»Wo denken Sie hin! Ich habe heute doch schon eine ganze Flasche leer gemacht.«
»Na und? Wenn es nicht wirkt, dann brauchen Sie eben noch etwas. Lassen Sie uns gemeinsam etwas essen, ich leiste Ihnen Gesellschaft, damit es lustiger für Sie ist. Und vorher stoßen wir miteinander an, zum Gedenken an den Toten.«
Das war ein reichlich legerer Vorschlag, aber Veronika Matwejewna empfand es in diesem Moment nicht so. Schnell bereitete sie ein kleines Abendessen zu, ohne auf die Übelkeit zu achten, die ständig in Wellen hochkam, deckte den Tisch und holte noch eine Flasche Wodka. Sie bemerkte nicht einmal, wie schnell sie die Flasche ausgetrunken hatten. Die Spannung ließ nach, in ihrem Körper breitete sich eine angenehme Wärme aus, die Ereignisse des Tages verblassten. Ihr begannen die Augen zuzufallen, aber Pawel ging und ging nicht, und wenn sie ehrlich war, wollte sie auch nicht, daß er ging. Alles weitere versank im Nebel.
Morgens wurde sie von einer ungewohnten Empfindung geweckt. Sie spürte einen fremden Körper neben sich im Bett. Sie wandte ihren Kopf um und erstarrte vor Entsetzen. Sie hatte die Nacht mit einem Fremden verbracht, einem Leichenbestatter. Sie, die Aristokratin, die Tochter eines hochgebildeten, intelligenten Menschen, eines bekannten Architekten, sie, die Universitätsdozentin, hatte ihre Unschuld an einen betrunkenen jungen Burschen verloren. Wie hatte das geschehen können? Nein, nein, nein!
Sie rüttelte an dem tief schlafenden Mann neben sich. Er bekam die Augen nicht auf und konnte nicht begreifen, warum sie so ärgerlich war und warum sie ihn hinauswerfen wollte.
»Du mußt gehen, Pascha«, sagte sie, ohne ihm in die Augen zu sehen, »du mußt sofort gehen. Ich muß zur Arbeit.«
Er wurde wütend, aber er zeigte es nicht. Die bildete sich ja ganz schön was ein! Diese alte Drossel sollte sich dafür bedanken, daß er ihr gezeigt hatte, was ein Mann war, sonst wäre sie als alte Jungfer gestorben. Bevor er die Wohnung verließ, gelang es ihm, aus einer offenen Schatulle unbemerkt einen teuren Brillantring mitgehen zu lassen.
Er war gegangen und nie wieder bei Veronika Matwejewna aufgetaucht. Etwa ein Jahr später kam er zum ersten Mal ins Gefängnis. Er hatte im Park Frauen aufgelauert, seinen Mantel geöffnet und ihnen sein erigiertes Glied gezeigt. Nachdem er zwei Jahre abgesessen hatte, kehrte er an seinen alten Arbeitsplatz im Leichenhaus zurück. Für so eine Arbeit gab es nicht viele Anwärter, auch einen zehnfach Vorbestraften
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