Anastasija 05 - Die Stunde des Henkers
möchte Ihnen etwas vorschlagen . . . das heißt, etwas fragen. Ich weiß gar nicht, wie ich anfangen soll. . .«
»Nur zu«, ermunterte sie Minajew. »Wir beißen nicht. Was ist passiert?«
»Bis jetzt zum Glück noch nichts«, sagte die Frau mit einem Lächeln, das sie noch sympathischer machte. »Es geht um meine sechsjährige Tochter. Sie ist dieses Jahr in die Schule gekommen. Wissen Sie, sie hat jetzt Freundinnen, Klassenkameradinnen, und sie spielt immer mit ihnen draußen in der Grünanlage. Und die Fenster meiner Wohnung gehen zur anderen Seite, ich kann von dort aus die Grünanlage nicht sehen. Und ich mache mir die ganze Zeit Sorgen. Verstehen Sie . . . sie ist ja noch so klein. Von Ihrem Haus aus könnte ich . . .«
»Ich verstehe«, unterbrach sie Minajew. »Ihnen geht es um einen Wohnungstausch.«
»Ja«, gestand die Frau. »Ich gehe von Tür zu Tür in Ihrem Haus und frage jeden. Allerdings habe ich keine große Auswahl, Sie wissen ja. . .«
Anton Andrejewitsch wusste, was sie meinte. Beide Häuser waren völlig gleich gebaut, und in beiden gab es auf keiner Etage zwei gleiche Wohnungen. Wenn man aber einen Wohnungstausch ohne größere Geldinvestitionen oder Raumverluste vornehmen wollte, musste man Mieter finden, die eine identische Wohnung bewohnten. Die bezaubernde junge Frau hatte in der Tat wenig Chancen.
»Wie viele Mieter haben Sie denn schon gefragt?«, erkundigte sich Minajew.
»Alle«, sagte die Frau deprimiert. »Sie sind die letzten. Ich war tagsüber schon einmal da, aber Sie waren nicht zu Hause.«
»Wir müssen darüber nachdenken«, sagte Anton Andrejewitsch. »Ich verstehe Ihr Problem, aber es kommt etwas plötzlich . . .«
»Und natürlich müssen wir uns Ihre Wohnung anschauen«, mischte seine Frau sich ein.
»Sie ist völlig identisch mit Ihrer. Ich würde Ihnen meine Wohnung nicht zum Tausch anbieten, wenn sie kleiner wäre als Ihre. Allerdings habe ich eine Modernisierung nach europäischem Standard machen lassen.«
»Wollen Sie damit sagen, dass Sie im Fall eines Wohnungstausches eine Ablöse erwarten?«
»Nun ja . . .« Die Frau lächelte erneut, diesmal verwirrt und unsicher. »Es wäre wünschenswert. Ich habe sehr viel Geld für die Modernisierung ausgegeben. Aber wenn Sie nichts bezahlen möchten, könnten wir . . . Mein Kind ist mir wichtiger als Geld.«
»Verzeihen Sie«, sagte Minajew, »darf ich fragen, ob Sie verheiratet sind?«
»Nein, ich lebe allein mit meiner Tochter. Spielt das eine Rolle?«
»Nein, gar keine. Wenn Sie verheiratet wären, hätte ich Ihnen nur vorgeschlagen, diese Sache mit Ihrem Mann zu besprechen, um Ihnen finanzielle Verhandlungen zu ersparen. Aber da Sie nicht verheiratet sind . . .«
»Nein, ich bin nicht verheiratet«, wiederholte die Frau mit Nachdruck. »Darf ich darauf hoffen, dass Sie über die Sache nachdenken werden?«
»Zweifellos«, erwiderte Minajew schnell. »Machen wir es so: Sie geben uns Ihre Adresse, und wir kommen vorbei und sehen uns Ihre Wohnung an. Danach können wir uns über Einzelheiten unterhalten.«
»Danke«, sagte die Frau mit leuchtendem Gesicht. »Haus sechs, Wohnung neunundzwanzig, vierter Stock. Ich heiße Ira. Wann darf ich mit Ihnen rechnen?«
»Wir werden gleich heute vorbeikommen«, versprach Minajew. »Gleich nach dem Abendessen, wenn Sie erlauben.«
»Wunderbar«, sagte die Frau erfreut. »Ich erwarte Sie. Ich danke Ihnen.«
»Es ist noch zu früh, uns zu danken«, sagte Minajews Frau. »Wir haben Ihnen noch nichts versprochen. Erst müssen wir uns die Wohnung ansehen, dann werden wir entscheiden.«
»Ich danke Ihnen trotzdem«, lächelte die Nachbarin. »Die andern wollten über meinen Vorschlag nicht einmal nachdenken. Niemand will einfach so umziehen, das ist verständlich. Die ganzen Umstände, warum sollte sich das jemand antun?«
»Sie hat Recht«, sagte Minajews Frau, nachdem die Nachbarin gegangen war und sie mit ihrem Mann wieder in der Küche saß. »Alles einpacken, Möbel schleppen, wieder auspacken und aufstellen – warum sollte man sich das für nichts und wieder nichts antun? Wenn sie wenigstens eine größere Wohnung hätte.«
»Dafür ist die Wohnung nach europäischem Standard modernisiert«, widersprach Anton Andrejewitsch, während er sich mit großem Appetit über den inzwischen etwas abgekühlten, aber immer noch sehr schmackhaften Borschtsch hermachte. »Ahnst du auch nur, wie viel so etwas kostet?«
»Nein. Wie viel denn?«
»Viel, Nata, sehr viel. Und es
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