Anastasija 05 - Die Stunde des Henkers
Aber irgendetwas müssen wir opfern, und wir müssen uns entscheiden. Fürchten Sie, dass Sauljak in der Zeit, in der ich ihn suchen werde, sein nächstes Opfer töten wird? Dass die Verwirklichung meiner Idee das Risiko eines weiteren Mordes in sich birgt? Aber dasselbe kann auch passieren, wenn wir den Weg der Fahndung gehen. Wer weiß, vielleicht begeht er seinen nächsten Mord bereits in diesem Moment. Aber wenn wir die Fahndung einleiten, ihn nach Moskau bringen lassen und wieder laufen lassen müssen, weil wir ihm nichts beweisen können, wird er diejenigen, die er noch nicht umgebracht hat, trotzdem umbringen, nur etwas später. Aber wenn wir es so machen, wie ich vorschlage, wird er danach niemanden mehr umbringen. Das nächste, das fünfte Opfer ist wahrscheinlich sowieso unvermeidbar, ob wir nun nach ihm fahnden oder ihn anders finden. Er wird uns wahrscheinlich so oder so zuvorkommen. Aber dafür werden wir den sechsten und den siebten Mord verhindern.«
»Gut, du hast mich überredet. In zwei Stunden erwarte ich deinen Plan. Aber vorher noch etwas anderes. Was gibt es Neues in Bezug auf Jurzew, Lutschenkow und die anderen Mordfälle?«
Nastja schwieg, den Blick auf die polierte Oberfläche des langen Konferenztisches geheftet. Sie kam einfach nicht mehr nach, musste sich zerreißen zwischen der Arbeit für Konowalow und der Ermittlung in einem Dutzend anderer Fälle, die ihr niemand abnahm.
»Alles klar«, konstatierte Gordejew. »Das ist sehr schlecht. Du kannst jetzt gehen. In zwei Stunden erwarte ich dich mit deinem Plan.«
Sie stand auf und ging mit hängendem Kopf zu ihrem Büro. Vor der Tür überlegte sie es sich anders und ging noch etwas weiter, zu Jura Korotkows Büro.
»Ich habe dich gestern gesucht«, sagte sie. »Deine bessere Hälfte hat mir gesagt, dass du im Dienst bist.«
»Entschuldige«, sagte Jura mit einem schuldbewussten Lächeln. »Ljalja hat mir gesagt, dass du angerufen hast, aber ich bin sehr spät nach Hause gekommen und wollte dich nicht wecken. Was wolltest du denn?«
»Erinnerst du dich, wie ich in Uralsk mit Sauljak eine Bar besucht habe?«
»Natürlich erinnere ich mich. Warum fragst du?«
»Hast du zufällig darauf geachtet, wie die Straße hieß?«
»Der Fahrer hat gesagt, dass es der Mir-Prospekt war.«
Verdammt, da haben wir es, dachte Nastja. Die Caravella-Bar, in der die erste Leiche entdeckt wurde, befand sich ebenfalls auf dem Mir-Prospekt.
»Erinnerst du dich auch noch daran, wie die Bar hieß?«
»Ich glaube, irgendwas mit Segel oder Brandung . . . Warum willst du das wissen?«
»Hieß sie vielleicht Caravella-Bar?«
»Genau. Caravella. Was ist denn los mit dir, Nastja? Du wirst ja ganz blass.«
»Nichts ist los, Jura. Ich habe von Knüppelchen einen Rüffel bekommen wegen Jurzew und Konsorten.«
»Ach was«, winkte Korotkow ab. »Knüppelchen ist dir nie wirklich böse, und wenn er dich tadelt, dann mehr aus erzieherischen Gründen. Er hat dich noch nie für eine Nichtstuerin gehalten. Aber sei so nett und weiche mir nicht aus. Ich habe dich etwas gefragt und warte geduldig auf Antwort.«
»In dieser Bar wurde ein Mord begangen. Genau zu der Zeit, als ich mit Pawel dort saß. Oder jedenfalls ungefähr zu dieser Zeit. Du warst doch währenddessen draußen auf der Straße. Denk doch mal darüber nach, wen du gesehen hast, wer in dieser Zeit die Bar betreten und wer sie verlassen hat.«
»Du verlangst Unmögliches, meine Beste. Das ist schon über einen Monat her. Außerdem habe ich nur auf eure Verfolger geachtet und mich sonst für niemanden interessiert.«
»Die Verfolger«, wiederholte Nastja nachdenklich. »Die Verfolger . . . Das ist eine Idee, Korotkow. Behalte sie im Kopf.«
»Wie meinst du das?«
»Denk mal darüber nach.«
* * *
Wladislaw Stassow hatte sich wieder einmal davon überzeugt, dass seine Tochter nach wie vor die beste Schülerin in der Klasse war, er hatte sich eine Menge Komplimente von der Klassenlehrerin angehört und verließ mit großer Genugtuung das Schulgebäude, wo er über eine Stunde an einer Elternversammlung teilgenommen hatte. Seine Ex-Frau Margarita ging nie zu den Elternversammlungen, aus irgendeinem Grund war sie an diesen Tagen immer schrecklich beschäftigt.
Er hatte sein Auto erreicht und wollte gerade die Tür aufschließen, als von der Seite drei junge, sehr bullig wirkende Männer an ihn herantraten. Einer von ihnen packte Stassow an der Schulter, der zweite riss ihm Autoschlüssel und Aktenkoffer
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