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Anastasija 05 - Die Stunde des Henkers

Anastasija 05 - Die Stunde des Henkers

Titel: Anastasija 05 - Die Stunde des Henkers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Marinina
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Untersuchungsführerin. Wer wüsste besser als sie, dass das Gute in unserer Zeit fast niemals siegt oder höchstens partiell. Das, was sie schreibt, kennt sie nicht vom Hörensagen, sondern aus eigener trauriger Erfahrung.«
    »Nein«, widersprach Alexej stur, während er den Fisch geschickt zerteilte und in Mehl und Ei wälzte, »jede Gattung hat ihr eigenes Gesetz. Die Literatur muss bestimmten Gesetzen folgen. Sie ist nicht dazu da, um einfach nur die Realität abzubilden. Wozu sollte man ein Buch lesen, wenn es darin genauso zugeht wie im Leben? Dann kann man genauso gut aus dem Fenster schauen, anstatt zu lesen. In einem Krimi will ich nicht lesen, wie der betrunkene Wassja den betrunkenen Petja wegen einer Flasche Wodka erschlagen hat. So etwas passiert jeden Tag in der Realität, das ist völlig uninteressant. Weißt du noch, was man uns in der Schule beigebracht hat? Die Literatur muss das Typische in typischen Verhältnissen abbilden. Das nennt man Realismus. Aber wen interessiert dieser Realismus? Dafür haben wir das Fernsehen, das ertränkt uns jeden Tag im Realismus. Der Sieg des Guten über das Böse ist nicht typisch in unseren heutigen Verhältnissen. Aber genau davon möchte ich in einem Buch lesen. Um mir meinen Kampfgeist zu erhalten.«
    »Du lieber Gott«, seufzte Nastja, »ist jetzt der Moralist in dir erwacht? Worauf muss ich mich denn noch gefasst machen in Zukunft?«
    »Du musst dich auf einen köstlichen gebratenen Karpfen mit gedünstetem Gemüse gefasst machen. Und lass bitte mein Buch in Ruhe, ich gebe es dir sowieso nicht, bevor ich es ausgelesen habe. Sitz nicht hier wie das Karnickel vor der Schlange, es gibt kein Erbarmen. Wenn du dich nützlich machen und eine soziale Funktion übernehmen willst, dann schäle die Karotten und reibe sie auf der groben Reibe. Das ist die einzige Arbeit, die ich dir anvertrauen kann. Dabei kannst du nichts kaputtmachen außer deinem Nagellack.«
    Sie rieb gehorsam die Karotten und versuchte dabei, sich auf den Henker und seine Opfer zu konzentrieren, aber ständig lenkte sie etwas ab, störte wie das Summen einer lästigen Fliege irgendwo in der Nähe des Ohres. Entweder beunruhigte sie irgendein halb garer Gedanke oder ein zufälliges Wort, das sie an etwas erinnerte. Sie versuchte, Satz für Satz das Gespräch mit ihrem Mann zu rekonstruieren. Sieg des Guten über das Böse. Abbildung des Typischen in typischen Verhältnissen. Realismus. Der betrunkene Wassja und der betrunkene Petja. Karotten reiben -eine soziale Funktion. Irgendwo hier war es . . . Was für ein Geheimnis konnte sich im Schälen und Reiben von Karotten verbergen? Aber es musste irgendwo ganz in der Nähe sein . . . Sitz nicht hier wie das Karnickel vor der Schlange. Ich gebe dir das Buch sowieso nicht, bevor ich es ausgelesen habe. Wie das Karnickel vor der Schlange. Das Karnickel weiß, dass die Schlange es verschlucken wird, aber es kann nichts dagegen tun. Die Schlange hat es hypnotisiert, das Karnickel ist erstarrt in Bewegungslosigkeit.
    Das war es. Genau. O mein Gott, Pawel! Dort, in Samara, hatte er sie angeschaut, und sie hatte sich gefühlt wie das Karnickel vor der Schlange. Die Arme und Beine waren schwer geworden und hatten ihr nicht mehr gehorcht, sie hatte plötzlich den Wunsch verspürt, sich Pawel ganz und gar unterzuordnen und alles zu tun, was er ihr befahl, weil nur dann alles gut werden konnte.
    Sie ließ die Karotten liegen, riss sich die Schürze herunter und lief nach nebenan. Wie immer fand sie das Gesuchte nicht, obwohl sie sich genau erinnerte, dass sie das Blatt in dem blauen Ordner abgelegt hatte. Oder war es doch der grüne? Zum Teufel damit, sie konnte auch in der Tabelle nachsehen. Den ersten Mord hatte der geheimnisvolle Henker am vierten Februar in Uralsk begangen. Gegen elf Uhr abends. In einem Nebenraum der Caravella-Bar. Wie hatte die Bar geheißen, in der sie mit Pawel gewesen war? Warum hatte sie nicht darauf geachtet? Aber wie hätte sie wissen können. . . Ruhig, Nastja, sagte sie sich, ganz ruhig. Du hast nicht darauf geachtet, aber schließlich war Korotkow auch dabei. Der ist bestimmt nicht so ein Blindgänger wie du. Er fuhr in einem Privatwagen hinter dir her, und sicher hat er sich mit dem Fahrer unterhalten. Und in diesem Gespräch ist bestimmt der Name der Bar gefallen oder zumindest der Name der Straße, auf der Korotkow seiner untreuen Geliebten auflauerte.
    »Was ist los?«, hörte sie Alexej aus der Küche rufen. »Drückst du dich

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