Anastasija 05 - Die Stunde des Henkers
ganz normale Fußspuren entdeckt, und davon sehr viele. Woher sollte man nun wissen, welche dem Mörder gehörten? Wie viele Zigarettenkippen hatte man gefunden? Sechs. Das Rauchen einer Zigarette dauerte fünf bis sieben Minuten. Insgesamt also dreißig bis vierzig Minuten. Dazu kamen die Pausen zwischen den Zigaretten, insgesamt vielleicht eine halbe Stunde. Also hatte der Ermordete mindestens eine Stunde auf dem Kinderspielplatz zugebracht. Und dabei hatte er gesessen. Es mussten also Spuren seiner Kleidung auf der Bank vorhanden sein.
Wie dem auch war, jedenfalls hatte der Henker alle seine Opfer ganz offenkundig genau an der Stelle ermordet, an der sie auch gefunden wurden. Aber wieso hatten sie sich alle von ihm erwürgen lassen, ohne den geringsten Widerstand zu leisten?
Nastja richtete sich wieder auf und stemmte die Hände ächzend in den Rücken. Sie musste jetzt einige Anrufe machen, um Einzelheiten zu klären. Alexander Semjonowitsch Konowalow hatte ihr die nötigen Telefonnummern gegeben, unter denen sie alle Auskünfte bekommen konnte, die sie brauchte. Alexej saß in der Küche und las gebannt einen neuen Krimi, wobei er die Hand von Zeit und Zeit nach dem Körbchen mit den Käsecrackern auf dem Tisch ausstreckte.
»Hast du Hunger?«, fragte er, ohne die Augen von dem Buch zu heben.
»Nein, noch nicht. Ich habe vor, mich an unserem ärmlichen Haushaltsbudget zu vergehen. Darf ich?«
»Nur zu. Was hast du vor?«
»Ich muss ein paar Ferngespräche führen.«
»Mach nur«, murmelte Ljoscha, während er eine Seite umblätterte. »Die Telefonrechnung kommt sowieso erst in einem Monat.«
»Werden wir in einem Monat etwa reicher sein?«, erkundigte sich Nastja.
»Ich weiß es nicht, vielleicht bekommen wir ja endlich die Nachzahlung unserer Gehälter. Nimm das Telefon und trolle dich, ich bin hier gerade an der spannendsten Stelle. Wenn du essen willst, sag Bescheid.«
Nastja trug das Telefon mit der langen Schnur nach nebenan und schloss die Tür, um ihren Mann nicht bei seiner spannenden Lektüre zu stören. Nach einer halben Stunde hatte sie bereits einiges geklärt, alle Auskünfte, die sie erhalten hatte, bestätigten ihre Annahme: Der Henker hatte alle vier Opfer an den Orten ermordet, an denen sie gefunden worden waren. Ganz offensichtlich hatten alle vier einen gemeinsamen Bekannten, einen, den sie nicht fürchteten und ohne weiteres nah an sich heranließen.Die Überprüfung einer solchen Vermutung würde allerdings sehr viel Zeit erfordern. Man mußte den gesamten Bekanntenkreis der vier Opfer überprüfen und herausfinden, an welchem Punkt die Bekanntschaften sich überschnitten. Eine so umfangreiche, penible Recherche wurde heute kaum noch gemacht, die profunde, gewissenhafte Ermittlungsarbeit gehörte der Vergangenheit an.
Nastja ging erneut in die Küche und stellte das Gas unter dem Wasserkessel an.
»Trink vor dem Abendessen keinen Kaffee, du verdirbst dir den Appetit«, murmelte Alexej, immer noch vertieft in seinen Krimi.
»Bis du den Krimi ausgelesen hast, bin ich hungers gestorben«, entrüstete sich Nastja. »Und so was will ein Ehemann sein. Wozu hast du mich denn geheiratet?«
»Quengle nicht, wir können gleich essen.«
Nastja überkam ein Gefühl des Bedauerns mit ihrem Mann.
»Du kannst ruhig noch eine Viertelstunde lesen, ich kümmere mich um das Abendessen.«
»Nein!«
Alexej legte sofort das Buch weg und sprang erschrocken auf.
»Ich möchte noch ein bisschen leben. Und bei deinen Kochkünsten kann man nie sicher sein, ob man sich nicht vergiftet.«
»Umso besser«, sagte Nastja erfreut, setzte sich auf den frei gewordenen Küchenhocker und griff nach dem Buch, das auf dem Tisch lag.
»Tatjana Tomilina. Wer ist das?«
»Weißt du das nicht?«, fragte Ljoscha erstaunt. »Das ist Stassows Frau.«
»Aber sie heißt doch Obraszowa? Ist Tamilina ihr Pseudonym?«
»Ja.«
»Und wie schreibt sie? Ist es gut?«
»Du solltest es mal lesen. Es wird dir von Nutzen sein.«
»Sind ihre Bücher wirklich zu empfehlen?«
»Mehr als das. Kein Schmutz, kein Schund, echte, klassische Kriminalromane. Allerdings enden die Geschichten meistens traurig. Irgendwie ausweglos.«
»Und wie hättest dur es gern? Dass die Gerechtigkeit triumphiert, dass der gefasste Verbrecher am Ende um ein Glas Wasser bittet und mit heiserer Stimme seine Schuld gesteht?«
»Nun ja, irgendetwas in dieser Art. Jedenfalls sollte das Gute über das Böse siegen.«
»Ljoschenka, Tatjana ist
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