Anastasija 06 - Widrige Umstände
seinem Buch los und sammelte hastig die Plastiktüten ein.
»Nastenka, was soll denn das, also wirklich! Wir hatten doch verabredet, dass wir heute feiern wollen. Du hast selbst gesagt, ich soll um sechs da sein, und jetzt ist es schon fast acht.«
»Alte Vogelscheuche«, sagte Nastja gutmütig. »Sechs war für Freitag ausgemacht, und heute ist Montag. Am Freitag habe ich den ganzen Abend auf dich gewartet.« Sie ging ins Haus und hielt dem mit Taschen bepackten Mann die Tür auf.
»Wie, am Freitag?«, murmelte er verwirrt und kämpfte gleichzeitig mit der Tür, dem Buch unter seinem Arm, das herunterzufallen drohte, und der von seiner Nase rutschenden Brille. »Ich war mir sicher, am Fünfzehnten. Heute ist doch der Fünfzehnte? Wirklich? Waren wir wirklich für Freitag verabredet? Habe ich wieder alles durcheinander gebracht. . .«
Sie fuhren mit dem Aufzug in die siebente Etage, Nastja schloss die Wohnungstür auf, und ihr Begleiter beklagte noch immer erschüttert seine Zerstreutheit.
»Na schön«, sagte Nastja müde, ließ sich entkräftet auf einen Stuhl im Flur fallen und streckte die Beine aus, »mit deinem Gedächtnis ist nicht viel los. Aber in Logik müsstest du doch stark sein. Du bist doch Mathematiker. Wer kommt denn auf die Idee, montags zu feiern? Schluss, ich will nicht länger darüber reden. Wenn ich gewusst hätte, dass du mit Taschen voller Lebensmittel anrückst, hätte ich meinen zarten Körper nicht mit Einkäufen gemartert.«
Der zerstreute und etwas wunderliche Mathematiker Ljoscha war jedoch nicht so weltfremd, dass ihm der Stimmungsumschwung bei seiner Freundin entgangen wäre. Die »Marterung des zarten Körpers«, das war bereits ein Anflug von Humor; sie war also bereit, ihm zu verzeihen.
Ljoscha und Nastja kannten sich seit der Schulzeit. Seit zwanzig Jahren hing Ljoscha mit treuer und kindlicher Liebe an Nastja. Ihr unscheinbares Äußeres spielte für ihn keine Rolle, er schien gar nicht zu wissen, wie seine Geliebte aussah. Hin und wieder öffnete Ljoscha plötzlich die Augen und bemerkte um sich herum schöne, beeindruckende Frauen, verliebte sich unsterblich in sie, stürmisches Verlangen raubte ihm den Verstand, doch das dauerte immer nur so lange, bis das Objekt seiner verzehrenden Begierde den rothaarigen Mathematiker mit einer zehnminütigen Unterhaltung beglückte. Die glühende Liebe erlosch augenblicklich, denn jedes Mal stellte sich heraus, dass er nur mit Nastja reden und überhaupt zusammen sein konnte. Mit allen anderen Frauen und auch mit den meisten Männern langweilte er sich. Nach seinen missglückten Eskapaden ging er zu Nastja und erzählte ihr lachend, wie er wieder einmal von einer schönen Frau enttäuscht worden war.
Nastja ärgerte sich nicht darüber, sie fühlte sich mit ihm wohl.
Der Abend verlief wie gewohnt. Ljoscha stellte Nastja in der Küche eine Schüssel mit kaltem Wasser vor die Füße, machte rasch Essen und erzählte ihr dabei, wie er die Tage seit ihrer letzten Begegnung verbracht hatte. Er deckte den Tisch, offerierte Nastja einen Martini mit Eis und öffnete sich ein Bier. Dann sahen sie sich im Fernsehen einen Krimi an. Nastja hörte ihrem rothaarigen Genie mit halbem Ohr zu und dachte zufrieden, wie schön es war, dass es jemanden wie Ljoscha gab, der nichts von ihr verlangte, zugleich aber dafür sorgte, dass sie sich nicht wie eine alte Jungfer vorkam.
Ljoscha schlief ein, erschöpft von einem stürmischem Gefühlsausbruch, doch Nastja lag noch immer mit offenen Augen da und dachte an Irina Filatowa. Ihr auf Hochtouren arbeitendes Gehirn ließ sich einfach nicht abschalten. Nastja stand vorsichtig auf, zog ihren Bademantel über und ging in die Küche. Sie holte eines der Fotos von der Wohnung der Filatowa hervor und lehnte es gegen die Keramikvase auf dem Küchentisch. Irgendetwas stimmte auf diesem Foto nicht! Was nur? Was?
Drittes Kapitel
Aus der Leichenhalle wurde Irina Filatowa auf den Pjatnizkoje-Friedhof am Rigaer Bahnhof gebracht, wo ihre Mutter begraben war. Erstaunlich viele Menschen waren gekommen, um von ihr Abschied zu nehmen. Jura Korotkow hatte sich unter die Menge gemischt und hielt Ljudmila Semjonowa am Arm, eine Kollegin und Freundin der Toten. Er brauchte jemanden, der das Umfeld des Opfers gut kannte und in der Lage war, während der Trauerzeremonie Fragen zu beantworten und nicht in Hysterie auszubrechen.
Der Rat, sich an die Semjonowa zu halten, stammte von Wolodja Larzew, der Irinas Kolleginnen
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