Anastasija 06 - Widrige Umstände
zusammen mit Mischa Dozenko befragt hatte, und zu Larzews Instinkt hatte Korotkow volles Vertrauen.
»Sie halten mich wahrscheinlich für gefühllos?«, fragte Ljudmila leise. »Ich habe in meinem Leben schon so viele Angehörige begraben, dass ich gelernt habe, den Tod anzunehmen. Wenn nur manche Leute sterben würden und die anderen nicht, dann wäre der Tod eine tragische Ungerechtigkeit. Warum musste gerade dieser Mensch sterben und nicht ein anderer, warum darf der eine ewig leben, der andere nicht? Aber da nun einmal niemand unsterblich ist, muss man den Tod als etwas Normales und Unausweichliches betrachten. Habe ich nicht Recht?«
»Ich weiß nicht«, antwortete Korotkow ernst. »Das kann ich Ihnen nicht beantworten. Sehen Sie mal, wer ist das dort, neben dem Vater der Filatowa?« Er deutete mit einer Kopfbewegung auf einen kräftigen dunkelhaarigen Mann mit Schnurrbart und orientalisch geschnittenen Augen.
»Ihr Exmann, Ruslan Baschirow. Die neben ihm ist seine neue Frau.«
Ljudmila fing den überraschten Blick ihres Begleiters auf und lächelte.
»So war unsere Irina. Sie hat sich nie mit jemandem zerstritten. Sie hat immer gesagt, das Wertvollste im Leben sei, gut mit den Menschen auszukommen. Wenn Mann und Frau sich trennen, dann heißt das doch nicht unbedingt, dass einer der beiden schlecht ist. Sie fühlen sich einfach nicht mehr wohl miteinander. Aus allen möglichen Gründen. Aber wenn Menschen nicht mehr miteinander leben und nicht mehr in einem Bett schlafen können, bedeutet das ja nicht, dass sie nichts mehr miteinander zu tun haben, nicht mehr befreundet sein können. Ruslans neue Frau hält übrigens, ich meine, hielt viel von Irina. Irina hat die beiden sogar mit ihren Verehrern besucht.«
»Das ist in der Tat ungewöhnlich«, bestätigte Korotkow. »Sind außer ihrem Mann noch andere, wie soll ich sagen, Männer hier, mit denen Irina . . .«Er stockte. Die Friedhofsatmosphäre hinderte ihn, das übliche Wort Liebhaber zu benutzen.
»Nur keine Scheu, Jura.« Ljudmila drückte leicht seinen Arm. »Ich bin schließlich auch mal Kriminalistin gewesen. Sie können mir ruhig jede Frage stellen.«
»Ljudmila«, sagte Korotkow aufrichtig, »Sie sind ein wahres Wunder. Wenn Sie nicht verheiratet wären, würde ich Ihnen einen Antrag machen.«
»Tun Sie’s doch«, antwortete sie schlicht.
»Sie sollten nicht solche Scherze machen. Wir beide sind hier immerhin auf einer Beerdigung.« Korotkow streichelte sanft ihre Hand, die wie selbstverständlich auf seinem Arm lag.
»Das ist kein Scherz.« Ihre Stimme verriet Bitterkeit. »Sie heiraten mich und mein Mann seine Mama. Und dann besuchen wir uns gegenseitig.«
Das alte Lied, dachte Korotkow traurig. Er vergöttert seine herrschsüchtige, intolerante Mutter und vergleicht seine Frau andauernd mit ihr, und dabei schneidet die Frau immer schlechter ab. Bei gut der Hälfte aller Ehepaare, die ich kenne, ist das so.
»Warum hat die Filatowa nicht wieder geheiratet?«, fragte er. »Soviel ich weiß, hatte sie genug Verehrer.«
»Das Alter, Jura, leider, das Alter. Frauen über dreißig geraten entweder an eingefleischte Junggesellen, die eine Heidenangst haben, man wolle sie zum Standesamt schleppen, oder an Verheiratete. Um die erste Kategorie zu heiraten, muss man total verrückt sein, und die zweite muss man erst dazu bringen, sich scheiden zu lassen. Dafür hatte Irina nie die Energie. Und dann das Wohnungsproblem. Einen Mann mit in die winzige Zweizimmerwohnung einziehen zu lassen, in der sie mit ihrem alten, kranken Vater lebte, das lehnte sie entschieden ab. Und woher soll ein Geschiedener eine Wohnung nehmen? Die würde er doch der Frau und den Kindern überlassen.«
»Nicht alle überlassen die Wohnung ihrer Frau. Viele tauschen«, wandte Korotkow ein.
»Einen Mann, der seine Frau verlässt und mit Frau und Kindern um die Wohnung streitet, hätte Irina nie im Leben geheiratet«, antwortete Ljudmila überzeugt. »Sie konnte Raffer und Knauser nicht ausstehen. Sie war mal drauf und dran, in eine Genossenschaft einzutreten, aber das hat sich im letzten Moment zerschlagen.«
»Warum?«
»Irgendwelches Geld, mit dem sie gerechnet hatte, blieb aus. Und geborgt hat sie sich nie etwas. Nicht einmal ein paar Rubel kurz vor dem Monatsende. Sie war überhaupt sehr darauf bedacht, niemandem zur Last zu fallen und niemandem etwas schuldig zu sein. Das war ein richtiger Tick. Sie hat ihr Leben lang alles allein gemacht, nie jemanden um Hilfe
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