Anastasija 06 - Widrige Umstände
gebeten. Und nicht aus Stolz, nein, nicht um zu beweisen, wie toll sie ist, dass sie ohne fremde Hilfe klarkommt. Ganz und gar nicht. Sie fürchtete etwas anderes. Manchmal bittet man jemanden um Hilfe, und derjenige geniert sich, einen abzuweisen, obwohl man ihm damit einige Umstände bereitet. Er hilft, aber innerlich verflucht er dich und deine Bitte und sich selbst, weil er nicht Nein sagen konnte. In diese Situation wollte Irina auf keinen Fall geraten. Dabei ist sie selbst sehr hilfsbereit, und wenn jemand nicht Nein sagen kann, dann sie. Sie schlägt niemandem etwas ab.« Immer wieder sprach Ljudmila von ihrer Freundin in der Gegenwart.
»Was war denn das mit dem Geld für die Genossenschaft?«, lenkte Korotkow das Gespräch auf ein Thema, das ihm interessant erschien. »Hatte sie mit einer Erbschaft gerechnet?«
»Ich weiß es nicht«, seufzte Ljudmila. »Das war, bevor ich ans Institut kam. Sie hat es irgendwann mal beiläufig erwähnt, mehr nicht. Und ich habe nicht weiter gefragt. Wenn Sie sich für ihre Männer interessieren – der da im grauen Hemd, sehen Sie, er war ihre letzte Flamme. Er arbeitet im russischen Büro von Interpol. Der große blonde Dicke, der Dritte rechts von Ihnen, der ist Dozent an unserer Akademie. Von ihm hat Irina sich im vorigen Jahr getrennt. Das heißt, ihr Verhältnis ist beendet, reden tun sie natürlich noch miteinander. Haben sie«, korrigierte sie sich wieder. »Aber Korezki sehe ich nirgends, obwohl der auf jeden Fall da sein müsste.«
»Warum?« Korotkow horchte auf. »Wer ist Korezki?«
»Shenja Korezki ist Chirurg in unserer Poliklinik. Mit ihm war Irina am längsten zusammen, sogar länger, als sie verheiratet war. Shenja behandelt ihren Vater, Sergej Steppanowitsch. Die Leber. Er geht also nach wie vor bei ihnen ein und aus.«
»Sagen Sie«, Korotkow stöhnte, »hatte Ihre Freundin auch mal ein Verhältnis mit jemandem außerhalb der Miliz, oder hat sie sich ihre Liebhaber absichtlich nur in diesem Kreis gesucht?«
»Wo denn sonst?«, fragte Ljudmila zurück. »Das ganze Leben nur zu Hause und auf der Arbeit. Woanders lernt man doch niemanden kennen. Mit zwanzig rennt man noch in Discos und zu Studentenpartys, aber in unserem Alter beschränkt sich alles auf den beruflichen Kreis. Einmal hat Irina ein Verhältnis aus dem Urlaub mitgebracht. Hinterher war sie doppelt so vorsichtig, so sehr hatte sie sich die Finger verbrannt. Er wirkte besonders kultiviert, sah gut aus, war nicht dumm, aber er hatte zwei Vorstrafen. Da hätten Sie Irina erleben sollen!«
»Wieso? Hat sie sehr darunter gelitten?«, erkundigte sich Korotkow.
»Keinen Augenblick. Sie hat sofort mit ihm Schluss gemacht. Und zwar nicht wegen der Vorstrafen, das waren nur Verkehrsdelikte, sondern weil er es ihr verheimlicht hatte, dabei wollte er sie heiraten, sich scheiden lassen. Er hätte doch wissen müssen, dass das nicht drin war, sie als Majorin der Polizei und ein Mann mit zwei Vorstrafen.«
»Wie hat sie denn von den Vorstrafen erfahren, wenn er es ihr verheimlichte?«
»Durch Zufall. Das hat sie ja so wütend gemacht. Irina konnte es nicht ausstehen, wenn man sie für dumm verkaufte. Soviel ich weiß, war dieser Valera der einzige Mann, von dem sie sich wirklich richtig getrennt hat. Aus und vorbei. Die Übrigen ahnen nicht einmal, dass ihr Verhältnis mit Irina beendet ist. Ich sagte ja schon, sie hat sich nie mit jemandem gekracht. Ihre Verflossenen hat sie in dem Glauben gelassen, es sei noch alles beim Alten, nur die Umstände immer gerade ungünstig: Viel Arbeit, Dienstreisen, keine sturmfreie Bude. Sie hängt aufrichtig an ihnen allen, kann eben nur nicht mehr mit ihnen schlafen. Wären sie sonst alle jetzt hier auf dem Friedhof?«
Die Trauerfeier ging zu Ende. Sechs breitschultrige Männer hoben den Sarg hoch, und alle folgten ihnen zum Grab. Korotkow sah sich nach den Leuten von der Kriminaltechnik um, die das Begräbnis mit versteckter Kamera filmten.
»Sehen Sie sich genau um, Ljudmila«, bat Korotkow. »Sind viele Leute hier, die Sie nicht kennen?«
»Kaum jemand«, antwortete sie ohne Zögern. »Fast alle sind aus unserem Institut. Die Mädchen dort sind vom Informationszentrum, dort hat sich Irina immer Statistiken geholt. Neben dem Vater, das sind Verwandte. Hinter uns geht ein Mann – den kenne ich nicht. Und ganz hinten die beiden mit den großen Gladiolen, die sehe ich auch zum ersten Mal. Komisch, dass Korezki nicht da ist.«
Korotkow blieb stehen. Er wusste
Weitere Kostenlose Bücher