Anastasija 06 - Widrige Umstände
er deinen Gordejew an, mit dem er zusammen zur Kur war oder auf einem Bankett gesoffen hat oder den er von sonst woher kennt: Hör mal, Viktor Alexejewitsch, halt deine Jungs mal ein bisschen im Zaum, das geht doch nicht an, dass sie mich beleidigen. Jedenfalls wirst du eine Menge Ärger haben.«
»Nein.« Nastja schüttelte traurig den Kopf. »Werde ich nicht. Knüppelchen lässt mich gar nicht an sie ran. Den Ärger werden unsere Jungs haben. Was meinst du, Papa, warum hält Knüppelchen mich so an der Leine?«
»Keine Ahnung.« Leonid Petrowitsch strich Nastja über den Kopf. »Vielleicht kennt er deine, na ja, gelinde gesagt, Eigenheiten?«
»Woher denn?«, erwiderte Nastja. »Es sei denn, du hast ihm davon erzählt. Aber das hast du doch nicht, oder?« Sie hob fragend den Kopf. i
»Natürlich nicht. Ich werde doch Oberst Gordejew nicht deine Geheimnisse verraten, auch wenn ich ihn schon seit Urzeiten kenne. Siehst du, noch ein Beispiel dafür, wie eng unser Kreis ist. Überhaupt, merk dir: Das ist typisch für zwei Berufe, für Juristen und für Mediziner. Nur dass man Dynastien bei den Medizinern in Ordnung findet, bei uns dagegen nicht. Wenn Papa und Mama Arzt sind und der Sohn wird auch Arzt, dann heißt es: Die Familie hat sich den Idealen des Humanismus verschrieben. Wenn dagegen ein Jurist der Sohn eines Juristen ist, dann denken alle, er ist nur durch Beziehungen so weit gekommen, sein Papa hat ihn untergebracht.«
»Und warum ist das so?«
»Etwas Wahres ist schon daran. Immerhin hatte das Innenministerium viele Jahre Prestige und Macht, folglich auch viele Möglichkeiten. So mancher Sohn und Verwandter wurde wirklich ›untergebracht‹. Aber bei anderen war es eben ganz anders. Das ist manchmal schwer zu erklären. Du zum Beispiel bist eine typische Milizionärstochter. Deine schulischen Leistungen waren großartig, und du hattest einerseits die glänzende Karriere deiner Mutter vor Augen, andererseits deinen Supermathematiker Ljoscha. Und was hast du gemacht? Du bist zur Miliz gegangen. Kannst du erklären, warum?«
»Nein.« Nastja seufzte. »Die Gene wahrscheinlich.«
»Welche Gene?« Leonid Petrowitsch stupste Nastja gegen die Nase. »Dein leiblicher Vater war nie bei der Miliz.«
»Aber erzogen wurde ich von dir«, wandte Nastja entschieden ein. »Lenken Sie nicht ab, Papa, erzählen Sie mir jetzt, was in Ihrem Wissenschaftlermilieu so läuft.«
Dienstag, der sechzehnte Juni, ging zu Ende. Der Tag, an dem Irina Filatowa beerdigt wurde. Der Tag, an dem der nach zweiundsiebzig Stunden Haft entlassene Dmitri Sacharow sich eingestand, dass er den Mörder seiner zufälligen Begleiterin eigenhändig erwürgen könnte. Der Tag, an dem der seit langem verheiratete Jura Korotkow schlagartig begriff, dass er sich in die Zeugin Ljudmila Semjonowa, neununddreißig Jahre alt, verheiratet, Mutter zweier Kinder, verliebt hatte. Der Tag, an dem eine leichte Wolke über Oberst Gordejew hinweghuschte, ohne dass er selbst es bemerkte.
Die nächsten Tage zeigten, wie prophetisch Leonid Petrowitschs Voraussagen gewesen waren. Korotkow, Larzew und Dozenko, die den Fall Filatowa bearbeiteten und die Hypothesen Mord aus Eifersucht oder aus Gewinnsucht untersuchten, kamen völlig erschöpft und gereizt zur Arbeit.
»Zum Teufel mit denen allen!«, rief der kaum mittelgroße grau melierte Wolodja Larzew wütend nach einem Gespräch mit dem Akademiedozenten Bogdanow. »Ich frage ihn nach der Filatowa, und er sieht mich kalt an und quetscht plötzlich zwischen den Zähnen hervor: ›Wo haben Sie studiert? Ach, an der Moskauer Milizschule! Operative Ermittlungsarbeit hat wahrscheinlich Professor Owtscharenko unterrichtet? Das merkt man gleich, er hat Ihnen nichts Vernünftiges beigebracht. Sie haben keine Ahnung, wie man eine Befragung durchführt.‹ Toll, oder?«
Korotkows Verdacht gegen den bei der Beerdigung abwesenden Chirurgen Korezki erwies sich als haltlos: Als alter Freund der Familie war er in der Wohnung der Filatowa geblieben, um bei den Vorbereitungen für das Totenmahl zu helfen. Von allen Verdächtigen in Sachen Eifersucht war er der angenehmste Gesprächspartner, aber das lag, wie Korotkow vermutete, wohl daran, dass die Mitarbeiter der Petrowka in einer anderen Poliklinik behandelt wurden, weshalb Korezki nicht lässig sagen konnte: »Wer ist Ihr Chef? Gordejew? Ach ja, den kenne ich, der war bei mir in Behandlung.«
Alle Männer, einschließlich des Exmannes der Filatowa und des gnadenlos fallen
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