Anastasija 06 - Widrige Umstände
Knie.
»Wenn du das alles kannst, warum benutzt du es dann nicht?«
Nastja hob träge die Hand von der Sessellehne und griff ihm ins Haar.
»Warum die Leute täuschen? Ich bin, wie ich bin.«
»Die Männer wären verrückt nach dir.«
»Kein Interesse.«
»Warum? Daran sollte jede normale Frau interessiert sein.«
»Ich bin keine normale Frau. Ich bin überhaupt keine Frau. Ich bin ein Computer auf zwei Beinen. Außerdem, irgendwann würden sie mich ja doch so zu Gesicht kriegen, wie ich aus dem Bad komme. Und dann wäre die ganze Liebe hin.«
»Mach dich nicht schlechter, als du bist. Du bist eine ganz normale, schöne junge Frau. Du hast nur kein Feuer.«
»Stimmt«, gab Nastja ihm Recht.
»Vielleicht willst du es nur nicht entfachen?«
»Vielleicht. Hör auf, mich anzustacheln. Ich bin todmüde. Ich schaffe es nicht mal bis ins Bad, und du redest von Leidenschaft. Die hab ich nun mal nicht, was soll ich da machen?«
»Soll ich dir helfen?«
»Wobei?« Nastja öffnete die Augen und sah Sacharow aufmerksam an.
»Ins Bad. Da dir die Leidenschaft sowieso abgeht, sollte dir das nichts ausmachen.«
»Ja.« Sie schloss erneut entspannt die Augen.
Dima ließ heißes Wasser in die Wanne laufen, gab Schaumbad dazu und ging zurück ins Zimmer. Er hob Nastja vom Sessel, zog ihr vorsichtig den Minirock aus und dann, bemüht, ihren Körper nicht zu berühren, das türkisfarbene T-Shirt mit den schmalen Trägern.
»Und diese Brust!« Er schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. »Wer solche Schönheit verbirgt, muss sich selbst überhaupt nicht mögen.«
»Ich mag mich auch nicht.«
Nastja hatte die Augen noch immer geschlossen.
»Und was magst du?«
»Aufgaben lösen.«
Er hob Nastja mühelos hoch, trug sie ins Bad und ließ sie vorsichtig in die Wanne gleiten. Im heißen Wasser kam sie schnell zu sich, ihre blassen Wangen bekamen wieder Farbe. Dima setzte sich auf den Wannenrand und betrachtete neugierig ihr frisch gewaschenes Gesicht.
»Wie oft hat Pawlow dich in deiner natürlichen Form gesehen?«
»Zwei Mal.«
»Und du hattest keine Angst, dass er dich erkennt? Ziemlich riskant.«
»Überhaupt nicht. Ich präge mich kaum jemandem ein. Ich bin gesichtslos. Du zum Beispiel, du kennst mich seit vielen Jahren, aber beschreiben könntest du mich nicht. An mir ist absolut nichts Auffallendes.«
»Wer sagt, dass du gesichtslos bist? Du selber?«
»Mein Stiefvater. Ich hab es nur zufällig gehört. Ich war damals fünfzehn. Er hat telefoniert und gedacht, ich hörte es nicht. Er hat jemandem die Leviten gelesen, weil sie einen zu auffälligen Jungen irgendwohin geschickt hatten. Damals war er noch im operativen Dienst. Er hat gesagt: ›Es muss jemand sein wie meine Nastja. Gesichtslos. Jemand, den man nicht wieder erkennt, selbst wenn man ihn schon hundertmal gesehen hat.‹ Ich hab natürlich losgeheult. Er begriff, dass ich das gehört hatte, und tröstete mich. Damals hat er zu mir gesagt: ›Dein Gesicht ist wie ein leeres Blatt Papier. Darauf kann man alles zeichnen, was man will. Schönheit und Hässlichkeit. Das ist eine seltene Gabe, und die muss man zu nutzen verstehen.‹ Außerdem, Dima, wir prägen uns doch nicht Gesichtszüge ein, sondern Haarfarbe, Mimik, Gestik, Stimme und Manieren eines Menschen. Und das alles lässt sich beliebig verändern, wenn man nur will. Deshalb war, wie gesagt, nicht das geringste Risiko dabei.«
»Du hast auch deine Stimme verändert?«
»Natürlich.«
»Sag mal was, ich möchte gern hören, wie du mit ihm geredet hast«, bat Dima.
Mit tiefer Stimme, in der deutlich eine englischsprachige Intonation durchklang, sagte Nastja:
»Mir scheint, Dmitri Wladimirowitsch, Sie unternehmen den Versuch, mich zu verführen. Ich gehe davon aus, dass Sie sich als nüchtern denkender Mensch über die völlige Vergeblichkeit dieses Unterfangens im Klaren sind.«
Sie tauchte tiefer in die Wanne, und der weiße Schaum bedeckte sie bis zum Kinn.
»Na, bist du wieder lebendig?«, fragte Sacharow, als Nastja, in einen langen Bademantel gehüllt, aus dem Bad kam. »Ich habe Tee gekocht. Setz dich und erzähle.«
»Ich darf vor dem Schlafengehen keinen Tee trinken.« Nastja schüttelte den Kopf. »Ich esse nur einen Apfel. Also, Dima. Erstens, Alexander Jewgenjewitsch kennt sich im Text seiner Dissertation gut aus, erinnert sich an alles und legt es relativ flüssig dar. Aber ich bin absolut sicher, dass er sie nicht geschrieben hat. Er hat sie sich lediglich gut angeeignet. Er konnte
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