Anastasija 06 - Widrige Umstände
Ljoscha. Aber Ljoscha kennst du ja.«
»Also bist du jemandem zu nahe getreten. Brauchst du Hilfe?«
Der bekannte Witzbold Selujanow konnte augenblicklich umschalten; er hatte ein sensibles Gespür für die Grenze zwischen Spiel und realer Gefahr.
»Ich . . . ich weiß nicht.«
Nastja war verwirrt. Sie hatte tatsächlich keine Ahnung, wie man sich in so einem Fall verhielt. Ach, und sie dumme Gans hatte es Knüppelchen übel genommen, dass er sie an der Leine hielt, sie quasi versteckte. Nun hatte er sie losgelassen, auf Pawlow, und da stellte sich heraus, dass sie völlig hilflos war . . .
»Warte, keine Panik. Bin gleich wieder da.«
Nach kurzer Zeit kam Selujanow zurück und klapperte mit einem Schlüsselbund.
»Knüppelchen hat gesagt, ich soll dich in die Wohnung seines Sohnes bringen, der ist mit seiner Familie zurzeit auf dem Land. Wir fahren erst zu dir nach Hause, du packst ein paar Sachen, und dann schicken wir dich in Urlaub. Na, keine Angst«, setzte er hinzu, als er Nastjas bleiches Gesicht sah. »Den hängen wir ab. Ist nicht das erste Mal.«
Nastja Kamenskajas Angst war unbegründet. Die Nachricht von ihrem Urlaub hatte bereits die richtigen Ohren erreicht, und die Überwachung der nun aus dem Spiel ausscheidenden und damit ungefährlichen Person wurde eingestellt. Die Dienstleistungen privater Firmen waren teuer, und wozu sollte man unnütz Geld ausgeben?
Die Wohnung von Gordejew junior war geräumig und bequem und hatte eine große quadratische Diele. Selujanow stellte die schwere Reisetasche ab, unterzog das Türschloss einer kritischen Prüfung und blickte in alle Zimmer.
»Mach’s dir bequem, ruh dich aus. Knüppelchen lässt ausrichten, du sollst dich nicht genieren. Also, ich geh dann.«
Als Kolja weg war, machte Nastja sich ans Auspacken. Ihre Tasche enthielt hübsche farbige T-Shirts, Röcke, zwei Paar modische helle Hosen und drei Kartons mit Schuhen. Obwohl sie sommers wie winters immer in den gleichen Jeans zur Arbeit ging, besaß sie eine passable Garderobe, die ihre im Ausland lebende Mutter ständig ergänzte. Nastja trug diese Sachen nie, stand aber leidenschaftlich gern darin vorm Spiegel.
Sie verteilte die Sachen auf den Stühlen und holte aus der Reisetasche eine kleinere Tasche. Darin hatte Nastja alles verstaut, was ihr Vater ihr Spielzeug nannte, ihre Mutter ein amüsantes Hobby und sie selbst die beste Unterhaltung der Welt. Sie stellte zahlreiche Flakons, Döschen, Schächtelchen und Samtetuis auf den Tisch. Daneben legte sie mehrere dicke Hochglanzzeitschriften. Aber heute war sie zu müde. Das hatte Zeit bis morgen.
Sie machte sich auf dem Sofa im kleinen Zimmer das Bett zurecht, duschte, kroch unter die Decke und schlug die grüne Mappe auf, das vierte Exemplar der Monographie von Irina Sergejewna Filatowa.
Aus dem Gebäude der Leninbibliothek kam eine schlanke Frau mit kastanienbraunem Haar. Fröhlich mit den Absätzen ihrer eleganten Sandaletten klappernd, lief sie bis zum Militärkaufhaus, bog um die Ecke und stieg in einen bordeauxroten Moskwitsch.
»Na«, fragte der Mann am Steuer, »hast du sie dir angesehen?«
Die Frau nickte.
»Unglaublich.« Sie schwieg, als suche sie nach Worten. »Die Sprache, die logische Darlegung, die klaren Formulierungen – einfach toll. Die Arbeit ist einmalig.«
»Und was folgt daraus?«
»Was schon?« Die Frau nahm einen Spiegel aus ihrer Handtasche und korrigierte ihr Make-up. »Eine einmalige Arbeit hat auch einen einmaligen Autor. Eine klare Schlussfolgerung. Bin ich auch nicht zu spät?«
Der Mann sah zur Uhr.
»Alles okay. Du kommst pünktlich.«
Alexander Jewgenjewitsch Pawlow erwartete seinen Gast zuvorkommend vor dem Eingang, im Schatten, vor der gläsernen Drehtür.
»Guten Tag, Larissa.«
Er küsste ihr die Hand und drückte sie dabei einen Augenblick länger als erforderlich.
»Alexander Jewgenjewitsch«, begann Larissa, als Pawlow ihr den Kaffee reichte und signalisierte, dass er bereit sei, »ich weiß, Sie sind ein viel beschäftigter Mann, darum werde ich mich bemühen, Ihnen so wenig Zeit wie möglich zu rauben.«
»Sie enttäuschen mich, Larissa«, entgegnete Pawlow, gespielt schmollend. »Ich möchte gern so lange wie möglich mit Ihnen zu tun haben.«
»Ich habe das Material, das ich nach dem Gespräch mit Ihnen geschrieben habe, meinem Redakteur gezeigt«, fuhr sie ungerührt fort, ohne auf den scherzhaften Ton einzugehen, »und er interessiert sich sehr für Ihr Konzept. Ich soll anstelle
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